Die Passionierten vom Klostertal
Passionsspiele sind nicht nur Ausdruck von Glauben an Gott, sondern schweißen Menschen zusammen
Der Hohepriester Kajaphas steht am Automaten und lässt sich erst mal einen Kaffee heraus, während Judas Iskariot noch den Rest aus seiner Bierflasche leert. Gleich sind sie wieder dran. Draußen auf der Freilichtbühne, in der Vorarlberger Gemeinde Klösterle, hat der liebe Gott kein Einsehen mit seinen Gläubigen, die heute bei einer der letzten Proben vor der Premiere der Klostertaler Passionsspiele 2017 das Leben und Leiden Christi nachzeichnen. Er hat die Schleusen des Himmels weit geöffnet: Regen, elf Grad – und das Anfang Juli. Der, der den Petrus spielt, will mit dem Wetter nichts zu tun haben, auch wenn die christliche Welt diesen Jünger traditionell dafür verantwortlich macht und seine Passionsspielkollegen ihn gelegentlich damit aufziehen. Regisseur Werner Berjak, den alle nur „Bimbo“nennen, klatscht in die Hände und treibt einen Teil der insgesamt fast 200 Mitwirkenden an, Aufstellung zu nehmen. Der jüngste Schauspieler ist sieben Monate alt, der älteste über 90. Gleich soll Jesus auf dem Esel feierlich in Jerusalem einziehen, begleitet vom Jubel des Volkes, das ihn mit Palmzweigen willkommen heißt.
Das mit den Passionsspielen ist ja immer so eine Sache, weil zumindest Christen das Ende der Aufführung schon kennen, noch bevor sie überhaupt die Eintrittskarte kaufen. Da ist es nicht leicht, einen Spannungsbogen aufrecht zu erhalten. Doch solche Theaterabende dienen ohnehin mehr dem Gedenken und stehen weniger für überraschende Wendungen und spannende Brüche. Dass das aber nicht unbedingt ein Schaden sein muss, beweist die Inszenierung der Klostertaler, die ein paar Überraschungen bereithält. Sonst eher bekannt für seine Skipisten um den Sonnenkopf, wird die Alpengemeinde alle fünf Jahre zur Kulisse für die Passion Christi. Eine 75 Meter breite und über drei Spielebenen belebte Fläche dient der Inszenierung als Bühne, direkt am Waldrand.
Passionsspiele entspringen einer tief verwurzelten Volksfrömmigkeit und haben ihren Ursprung oft in feierlichen Gelöbnissen. Das prominenteste Beispiel: Oberammergau. Während dort 1633 die Pest wütete, haben die Menschen Gott versprochen, ihm zu Ehren regelmäßig Passionsspiele abzuhalten, wenn er sie nur von der Seuche befreien möge. Von diesem Tag an – so jedenfalls ist es in den Annalen der Gemeinde nachzulesen – waren keine Pestopfer mehr zu beklagen und der Mythos Oberammergau war geboren.
„Eine solche Tradition haben wir hier natürlich nicht – noch nicht!“, sagt Roland Dallabrida, der die Geschäfte der Arbeitsgemeinschaft Passionsspiele Klostertal-Arlberg leitet. Das Event gibt es erst seit dem Jahr 2003. Erstaunlich, dass ein Verbund aus verschiedenen Gemeinden, darunter unter anderem Klösterle, Dalaas und Wald, um die Jahrtausendwende gemeinsam ein Thema angeschoben haben, das für viele Menschen fernab christlicher Traditionen fremd wirken mag. Regisseur Werner Berjak erinnert sich: „Herbert Margreiter und ich waren damals beide in der Theatergruppe der Gemeinde Wald aktiv. Die Idee hat uns nicht mehr losgelassen.“
Es hat einen langen Atem von drei Jahren gebraucht, bis sich die JesusGeschichte schließlich 2003 zum ersten Mal realisieren ließ. Werner Berjak hat den Text geschrieben: „Er ist konservativ und eng an der Bibel angelehnt“, sagt er. Sogar die Diözese habe das Manuskript geprüft und abgesegnet. Welche Arbeit es bedeutet hat, so viele Menschen über relativ lange Zeit für Proben und Aufführungen zu begeistern und dann auch bei der Stange zu halten, kann Berjak kaum in Worte fassen. Irgendwie sei es etwas ganz Besonderes in unserer modernen Zeit, sagt er, ohne das Wort Wunder zu gebrauchen.
Wunderlich sind die Mitwirkenden jedenfalls nicht. Gläubig ja, aber nicht übertrieben fromm. Modern ja, aber verwurzelt in christlichen Traditionen. Mehrheitlich katholisch ja, aber durchaus weltoffen: Die Erstbesetzung des Jesus mit Michel Pohl ist dafür das beste Beispiel. Der junge Mann ist gebürtiger Iraner, in Bayern aufgewachsen und dann ins Klostertal zugezogen.
Jubel erhebt sich, als Jesus aus der rechten Kulisse auf einem Esel vor die 500 Zuschauer fassenden überdachten Ränge zieht. Der Regen hat nachgelassen, bis auf einzelne Tropfen, aber mit der Dämmerung fällt die Temperatur in den einstelligen Bereich. Wenn so viele Menschen auf dem großen Gelände ihre intensive Präsenz entfalten, hat die Inszenierung etwas Ergreifendes: Michel Pohl verleiht der Rolle des Jesus eine ungekünstelte Glaubwürdigkeit. Seine Gesten sind sparsam, Regisseur Berjak vermeidet das Pathos, das einem Passionsspiel naturgemäß wie nichts sonst innewohnt.
Bisweilen gucken die vielen Kinder etwas unbeteiligt, bohren herzhaft in der Nase und lassen sich ablenken. Wie echte Kinder eben so sind. Eine besondere Färbung bekommen die Passionsspiele in Klösterle durch die regionaltypische Sprache. Der Vorarlberger Dialekt klingt – auch wenn die Darsteller stets um Schriftdeutsch bemüht sind – an vielen Stellen an. Es sind eben Laien und als solche keine perfekten Schauspieler, was viele durch besonderen Eifer aber wieder wettmachen. Etwa Othmar Ganahl, der durch sein urwüchsiges und langbärtiges Aussehen auch in Hollywood einen exzellenten Jünger abgeben würde. Darüber hinaus ist der Mann der zentrale Tüftler, dessen Ideen helfen, zur rechten Zeit das Theaterblut aus Jesu Seite laufen zu lassen. Oder den schweren Stein vor dem Grab Christi
Ich habe mich intensiv mit dem Leben des historischen Jesus beschäftigt. Roland Dallabrida, Passionsspiel-Geschäftsführer
beweglich zu machen. Überhaupt die Technik: Sie verschlingt mehr als 80 000 Euro des Gesamtbudgets von 180 000 Euro. Ton und Licht machen Profis der Bregenzer Festspiele. Nach dem Spiel auf dem See ist Klösterle heuer das zweitgrößte Freilicht-Event des Bundeslandes.
Egal wo auf dieser Welt Passionsspiele aufgeführt werden – es ist stets der ehrenamtliche Idealismus, der den gewaltigen Aufwand überhaupt möglich macht. „Der Lohn dafür ist eine familienähnliche Gemeinschaft“, sagt Passionsspiel-Geschäftsführer Roland Dallabrida. Und er weiß, wovon er spricht. Hat er doch in den vergangenen drei Spielzeiten den Jesus verkörpert. „Während der Spielzeit gibt es neben der Arbeit nichts anderes.“Die ganze Familie sei dann dabei, ansonsten verliere man sich aus den Augen. Die Vorbereitungen beginnen jeweils schon im Winter. Spätestens von da an ist für Männer Rasieren tabu. Stunden habe er nicht gezählt, aber die rund 50 Seiten Text, die Jesus zu sprechen hat. „Es dauert, bis man die auswendig kann.“Aber für Dallabrida war es nicht nur dieser Text: „Ich habe mich intensiv mit dem Leben des historischen Jesus beschäftigt.“Quellen studiert, nachgedacht, auch über sich und den eigenen Glauben. Und einmal passierte ihm etwas Sonderbares: Nach einer Aufführung kam eine alte Frau zu ihm, kniete nieder und wollte seinen Segen.
Das Spiel nimmt seinen Lauf: Unter dem Geheul des zornigen Volkes willigt Pilatus in die Kreuzigung ein, ohne zu vergessen, sich zuvor die Hände in Unschuld zu waschen. Die folgenden Szenen sind in ihrer Bildsprache zwar deutlich, aber niemals roh. Das Spiel vollzieht sich würdevoll. Und auch wenn die darstellerische Leistung bei Laien natürlich kein einheitliches Niveau professioneller Ansprüche erreicht, gelingt es den 200 Menschen, ihre Zuschauer zu berühren. Allein durch ihre Opferbereitschaft, an einem Gemeinschaftsprojekt zu arbeiten, das bereits Monate im Vorfeld Unmengen an Zeit verschlingt.
Am Ende sagt Regisseur Werner Berjak mit glühenden Wangen: „Notfalls könnten wir morgen schon vor Publikum spielen.“Aber „notfalls“, das reicht der treibenden Kraft hinter der Passion natürlich nicht. Darum wird das nicht die letzte Probe gewesen sein, bevor es zwischen Juli und Anfang August an 13 Abenden ernst wird. Aber auch lustig. Denn bei aller Ergriffenheit, die vielen der Darsteller anzusehen ist: Jeder gelungene Aufführungsabend ist auch ein Grund zu feiern und Anlass, dass Judas und Kajaphas mit einem Bierchen anstoßen, während Jesus den schlimmsten Durst nach Kreuztod und Auferstehung erstmal mit Apfelschorle löscht.