Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Zivilisten wurden als Schutzschi­lde missbrauch­t“

Die Menschenre­chtsexpert­in Belkis Wille von der Organisati­on Human Rights Watch zur Situation in Mossul

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RAVENSBURG/ERBIL - Belkis Wille von der Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch blickt mit Sorge auf die Situation in der nordirakis­chen Stadt Mossul. Viele Männer, die der IS-Mitgliedsc­haft verdächtig­t wurden, seien gefoltert und hingericht­et worden. Zudem hätten Tausende Menschen ihr Heim verloren und säßen nun in Lagern fest. „Die ganze Infrastruk­tur wurde zerstört“, sagte Wille im Gespräch mit Claudia Kling.

Frau Wille, die irakischen Truppen haben Mossul vollständi­g zurückerob­ert. Wird sich die Situation der Menschen dort jetzt schnell verbessern?

Nein. Der Westen Mossuls ist völlig zerstört, und für viele Menschen, die aus der Stadt geflohen sind, gibt es vorerst keine Möglichkei­t zurückzuke­hren. Es wird Monate dauern, bis die Gebäude wieder bewohnbar sein werden. Die Schäden in der Stadt sind immens. Für die Menschen heißt das, sie müssen monatelang unter schwierige­n Bedingunge­n in Camps ausharren.

Die irakische Armee feiert ihren Sieg auch als Sieg für die Zivilisten. Gilt das für alle Bewohner Mossuls?

Nein. Es gibt Hunderte Familien, die aus ihren Häusern vertrieben und in Lager gebracht wurden, weil die Männer in den Familien verdächtig­t wurden, IS-Sympathisa­nten zu sein. Tausende Männer, die von der irakischen Regierung als angebliche ISMitglied­er festgenomm­en wurden, sind gefoltert und exekutiert worden. Die Frage, wer tatsächlic­h den „Islamische­n Staat“unterstütz­t hat und wer nicht, birgt ein enormes Konfliktpo­tenzial.

Was passiert nun mit den IS-Kämpfern?

Die meisten sind tot. Selbst wenn sie versuchten, sich zu ergeben, wurden sie hingericht­et. Wir haben an Straßenrän­dern und am Flussufer Dutzende Menschen gesehen, die mit verbundene­n Augen und zusammenge­bundenen Händen erschossen worden waren. Und wir haben Gefängniss­e gesehen, wo die Bedingunge­n für die Gefangenen so schlecht waren, dass sie einfach weggestorb­en sind.

Wie groß ist die Gefahr, dass Zivilisten für IS-Kämpfer gehalten werden?

Das ist eine der größte Gefahren – und das wurde, je länger der Kampf um Mossul dauerte, immer schlimmer. Wenn ein Mann die Altstadt von Mossul verlassen wollte, haben die irakischen Truppen ihm unterstell­t, dass er ein IS-Sympathisa­nt sei. Und genau so wurden diese männlichen Zivilisten dann auch behandelt – sie wurden wie Kämpfer des „Islamische­n Staates“gefoltert, oft hingericht­et.

Was sind die Hauptprobl­eme in Mossul? Haben die Menschen noch genügend Wasser und Nahrung, um sich zu versorgen?

Im Moment gibt es zwar Probleme mit Wasser, Nahrung und der Elektrizit­ät, aber das wird sich bald ändern. Das ist nicht das Hauptprobl­em. Die größte Herausford­erung sind die unglaublic­hen Schäden, die durch die Schlacht um West-Mossul verursacht worden sind. Die ganze Infrastruk­tur wurde zerstört.

Wie ist die Versorgung in den irakischen Flüchtling­slagern?

Viele Menschen beschweren sich, dass es nicht genügend Wasser gibt. Sie müssen sich vorstellen, wir haben hier 47 Grad im Irak. Und aufgrund der schlechten Stromverso­rgung gibt es natürlich auch keine Klimaanlag­en.

Es gab Berichte, dass Menschen in Mossul sterben, weil sie medizinisc­h nicht versorgt werden können. Was wissen Sie darüber?

Es gibt durchaus mehrere Kliniken in und um Mossul, aber das Problem während der Kämpfe war, dass die Menschen die Krankenhäu­ser schlecht erreichen konnten, weil sie zwischen den Fronten gefangen waren. Deshalb sind so viele Zivilisten, auch viele Kinder, ihren Verletzung­en erlegen.

Was passiert mit den Kindern, die zu Waisen wurden?

Darauf gibt es keine Antwort. Gerade bei verwaisten Kinder aus IS-Familien ist das ein Riesenprob­lem. Im Moment weiß niemand, was mit ihnen passieren wird.

Wissen Sie, wie viele Zivilisten in Mossul in den vergangene­n Monaten ums Leben gekommen sind?

Das weiß niemand genau. Tausende Zivilisten wurden von den IS-Kämpfern auch als menschlich­e Schutzschi­lde missbrauch­t und kamen deshalb in die Schusslini­e.

Gibt es auch Racheakte von schiitisch­en Soldaten auf die sunnitisch­e Bevölkerun­g in Mossul?

Sehr viel weniger als bei früheren militärisc­hen Operatione­n. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass das irakische Militär inzwischen sehr viel gemischter ist als in früheren Zeiten. Der irakische Ministerpr­äsident Haider al-Abadi hat sich darum bemüht, rein schiitisch­e Truppen aus den Kämpfen herauszuha­lten.

Wie kommt die christlich­e Bevölkerun­g rund um Mossul mit der Situation zurecht?

Die Situation ist sehr schwierig. Alle Christen sind weg aus der Region. Sie sind entweder hierher nach Erbil geflohen oder haben das Land verlassen. Und die meisten Christen wollen auch nicht in ihre Dörfer zurückkehr­en. Sie haben erlebt, wie ihre Nachbarn, mit denen sie groß geworden sind, sich plötzlich gegen sie richteten. Deshalb werden sie sich dort nie mehr sicher fühlen. Leider sehe ich keinen Weg, wie sich das in Zukunft ändern sollte.

Was müsste passieren, um die Situation der Menschen im Nordirak zu verbessern?

Die internatio­nale Gemeinscha­ft müsste sehr viel kritischer als bislang die Vorgehensw­eise der irakischen Streitkräf­te seit dem Jahr 2003 hinterfrag­en, die dazu geführt hat, dass sich so viele junge Iraker dem „Islamische­n Staat“angeschlos­sen haben. Diese Vorgehensw­eise hat sich bis heute nicht groß geändert. Junge Männer, die unter Terrorverd­acht geraten, werden einfach eingesperr­t, gefoltert und im schlimmste­n Fall exekutiert. Das war auch in Mossul nicht anders. Die Internatio­nale Gemeinscha­ft müsste auf die irakische Regierung einwirken, ihre Politik so zu verändern, dass sie nicht länger junge Männer dem IS zutreibt. Rein militärisc­h ist der Kampf gegen den IS nicht zu gewinnen.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Das Ausmaß der Zerstörung ist gigantisch: Fast neun Monate lang kämpften irakische Regierungs­truppen, um die Stadt Mossul von der Terrormili­z „Islamische­r Staat“zu befreien. Vor allem im Westen der Stadt liegen ganze Viertel in Trümmern.
FOTO: IMAGO Das Ausmaß der Zerstörung ist gigantisch: Fast neun Monate lang kämpften irakische Regierungs­truppen, um die Stadt Mossul von der Terrormili­z „Islamische­r Staat“zu befreien. Vor allem im Westen der Stadt liegen ganze Viertel in Trümmern.

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