Weniger Schüler? Von wegen!
Eine neue Studie wirft alte Gewissheiten der Bildungspolitik über den Haufen
RAVENSBURG - Die Sache mit der „demografischen Rendite“wäre so schön gewesen: Millionenbeträge, die durch eine deutlich sinkende Zahl an Schülern frei werden, trotzdem im Bildungshaushalt bleiben und dann für einen besseren Unterricht, moderne Ausstattung oder die Renovierung von Schulgebäuden bereitstehen.
Daraus wird wohl nichts. Das ist das Fazit einer Studie mit dem programmatischen Titel „Demografische Rendite adé“, die die Bertelsmann-Stiftung am Dienstag vorgestellt hat. Der Tenor: Angesichts geburtenstarker Jahrgänge und hoher Zuwanderung werden in Deutschland 2030 mehr Kinder und Jugendliche als heute zur Schule gehen. Die bisherige Schätzung der Kultusministerkonferenz geht für den Zeitraum bis 2025 von deutlich sinkenden Zahlen aus. Um mehr als eine Million Schüler weicht die neue Prognose von den vorhergehenden Berechnungen ab (siehe Grafik).
Die Folgen: Es braucht mehr Lehrer und mehr Klassenräume, und beides kostet Geld. Zusätzlicher Investitionsbedarf statt finanzieller Spielraum also. Die Grundschulen werden den Wandel demnach zuerst zu spüren bekommen, zeitversetzt dann auch die weiterführenden Schulen. Die Bertelsmann-Forscher gehen davon aus, dass die Bildungsausgaben bis 2030 im Vergleich zu heute um 4,7 Milliarden Euro steigen werden, 43 000 zusätzliche Lehrer seien nötig.
Regionale Unterschiede
Aber nicht überall schlägt die Entwicklung gleichermaßen durch. Ländliche Bereiche sind weniger unter Druck als Großstädte oder auch wirtschaftsstarke ländliche Regionen etwa in Baden-Württemberg oder Bayern. Und: Die Entwicklung setzt erst in einigen Jahren ein. Der Zuwachs an Schülern wird sich nicht vor 2022 bemerkbar machen.
Die Zahlen liefern der badenwürttembergischen Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU), die derzeit mit dem Finanzministerium über den Doppelhaushalt 2018/2019 verhandelt, zusätzliche Munition: „Der Stellenabbau ist jetzt ein falsches Signal zur falschen Zeit. Mein Ziel ist es, den Abbau auszusetzen und den Bedarf im Lichte der aktuellen Zahlen neu zu prüfen.“Am morgigen Freitag will die Ministerin erklären, wie sie künftig an mehr Lehrer kommen möchte – denn für einige Bereiche, besonders für Grundschulen auf dem Land, ist der Lehrermangel schon heute Realität.
Die Bildungsgewerkschaft GEW in Baden-Württemberg hatte einen der Autoren der Bertelsmann-Studie, den Bildungswissenschaftler Klaus Klemm, bereits vor Monaten mit einer eigenen Lehrerbedarfsprognose beauftragt. Ergebnis: Allein im Südwesten werden bis 2030 landesweit 8000 zusätzliche Lehrer an Grundschulen benötigt. Zudem müsse die Zahl der Studienplätze aufgestockt werden: Andernfalls könne kaum mehr als die Hälfte der offenen Stellen neu besetzt werden. Kultus- und Wissenschaftsministerium in Stuttgart legen jährlich gemeinsam fest, wie viele Erstsemester ein Studium für das Grundschullehramt oder der Sonderpädagogik aufnehmen können. Nach Ansicht des Lehrerverbands VBE sind die Prognosen der Bertelsmann-Studie „noch optimistisch gerechnet“, so der baden-württembergische VBELandesvorsitzende Gerhard Brand. „Schließlich gehen sie von gleichbleibenden Klassengrößen und der Fortführung des Ein-Lehrer-Prinzips aus.“
Ähnlich argumentiert Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands BLLV. „Wir haben eine veränderte pädagogische Landschaft mit Inklusion, Integration und Ganztagsschule.“Nicht einfach nur mehr Lehrer seien nötig, sondern eine Diskussion über die Qualität der Bildung.