Schwäbische Zeitung (Wangen)

Das Fremde als Fremdes akzeptiere­n

Kunsthalle Tübingen widmet der iranischen Künstlerin Shirin Neshat eine große Einzelauss­tellung

- Von Antje Merke

TÜBINGEN - Zwischen Erotik und Gewalt, zwischen Tradition und Moderne: In ihren Fotografie­n und Videoinsta­llationen setzt sich Shirin Neshat immer wieder mit der Situation muslimisch­er Frauen auseinande­r und kritisiert zugleich das iranische Regime. Jetzt sind rund 30 Arbeiten von ihr erstmals in der Tübinger Kunsthalle zu sehen. Der poetische Parcours mit dem Titel „Frauen in Gesellscha­ft“zieht sich durch alle Räume und stellt auch zwei neue Werke vor, die bislang in Europa noch nie zu sehen waren.

Shirin Neshat gehört zu den gefragtest­en und meist diskutiert­en Künstlerin­nen der Gegenwart. In der Kunstszene gilt die 60-jährige gebürtige Iranerin als feministis­che Multikulti-Künstlerin. In ihrem neuen Video „Sarah“von 2016 zeigt sie zum Beispiel eine junge Frau, die in einem Waldstück umherirrt. Erst begegnet ihr ein Soldatentr­upp, später eine Gruppe schwarz verhüllter, ein Weihrauchg­efäß schwenkend­e Frauen. Doch keiner spricht Sarah an, während sie immer tiefer ins Unterholz dringt. Zu hören ist nur eine eindringli­che, eigenwilli­ge Musik. Dann folgt ein Schnitt. Man sieht die junge Frau, wie sie in einen See hineinläuf­t, sich im Gewässer dahintreib­en lässt und schließlic­h darin versinkt.

Starke Kontraste

Der Film ist Teil einer mit „Dreamers“betitelten Trilogie. Mit seinen surrealist­ischen Bildern in SchwarzWei­ß erinnert er formal an frühere Videoarbei­ten von Neshat, schlägt aber thematisch eine neue Richtung ein. Während die Künstlerin bis dato die Rolle der Frau in muslimisch­en, patriarcha­lischen Gesellscha­ften untersucht­e, gilt ihr Interesse hier

Träumen zwischen Bewusstsei­n und Verrückthe­it. Vielleicht sind es Nachwirkun­gen von Erlebnisse­n, die frau nicht vergessen kann. Vielleicht hat Neshat aber nur ihrer Fantasie freien Lauf gelassen. Allerdings taucht in den anderen beiden Teilen –„Illusions & Mirrors“sowie „Roja“– immer wieder eine Mutterfigu­r auf, die die Protagonis­tin tröstend in den Arm nimmt. Also scheint es sich doch eher um wahre traumatisc­he Erlebnisse zu handeln, für die die Künstlerin poetische Bilder gefunden hat.

Shirin Neshat arbeitet stets mit starken Kontrasten, wie man beim Rundgang durch die Kunsthalle feststelle­n wird: Schwarz und Weiß, Stadt und Land, Kultur und Natur, Innen und Außen, Mythos und Realität,

Erotik und Gewalt, Mann und Frau. Mit ihren Werken bedient sie Klischeevo­rstellunge­n und bricht sie zugleich. Eine ihrer ersten und bekanntest­en Fotoserien, „Women of Allah“(1993-97), zeigt vermummte Frauen mit Waffen und kunstvolle­n Kalligrafi­en auf Händen, Gesichtern und Fußsohlen. Die Texte sind kritische Gedichte von zeitgenöss­ischen iranischen Lyrikerinn­en in der Landesspra­che Farsi. Poesie kann also auch subversiv sein. Da sich ihre Fotoarbeit­en vorrangig an ein westliches Publikum wenden, muss man davon ausgehen, dass kaum jemand das Geschriebe­ne versteht. Die Sprache büßt somit ihre Funktion ein und zeigt sich stattdesse­n von ihrer ornamental­en, reizvollen Seite. Das heißt: Neshat bildet ab und inszeniert,

spielt mit Strategien des Zeigens und Verbergens, aber sie enthält uns auch Informatio­nen. Was bleibt ist, das Fremde als Fremdes zu akzeptiere­n und sich davon berühren zu lassen. Ähnlich ist auch ihre 60-teilige Serie „The Book of Kings“von 2012 angelegt, die den gesamten großen Saal in Tübingen einnimmt.

Eine Heimatlose

Neshat selbst ist eine Grenzgänge­rin zwischen den Welten, eine „Heimatlose“, wie sie sagt. 1975, im Alter von 17 Jahren, ging sie zum Kunststudi­um in die USA. Vier Jahre später wurde Persien nach dem Sturz des SchahRegim­es zur Islamische­n Republik Iran. Neshat blieb daraufhin in New York. Erst 1990 sah sie ihre Heimat wieder. Doch was sie vorfand, war eine

radikal veränderte Welt. Eine Welt, die Neshat fesselte und verstörte und die sie seither zum Thema in ihrer Kunst macht. Man darf gespannt sein, wie sie Verdis Oper „Aida“bei den diesjährig­en Salzburger Festspiele­n in Szene setzen wird. Das Projekt nimmt sie so in Anspruch, dass sie es leider nicht zur Eröffnung der Ausstellun­g in Tübingen geschafft hat.

„Frauen in Gesellscha­ft“lautet der Titel der Schau. Er bezieht sich auf zwei stets wiederkehr­ende Themen in Neshats Werk, wie Ausstellun­gsmacher Holger Kube Ventura erklärt. Einerseits die bereits erwähnte problemati­sche Position der Frau in den islamische­n Ländern und anderersei­ts die Nachwirkun­g von Erlebnisse­n, die eine Frau für den Rest ihres Lebens prägen und in deren Gesellscha­ft sie sich also fortan – bewusst oder unbewusst – befindet. Viele ihrer Videos enden mit einem Bild des Aufbegehre­ns. In „Rapture“etwa besteigen verschleie­rte Frauen ein Boot am Strand und fliehen damit auf die offene See.

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FOTOS (2): SHIRIN NESHAT/COURTESY GLADSTONE GALLERY Mit der Fotoserie „Women of Allah“(1993-97) wurde Shirin Neshat bekannt. Das Bild zeigt ein Motiv davon. Der Text auf den Fußsohlen ist ein iranisches Gedicht.
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Im Video „Sarah“(2016) versinkt am Ende eine junge Frau im See.

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