Schwäbische Zeitung (Wangen)

„In die reaktionär­e Ecke gestellt“

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BERLIN - Der Historiker Michael Wolffsohn (Foto: Rasemann) hält es für problemati­sch, dass der Anti-Hitler-Widerstand in der Wehrmacht nicht gebührend gewürdigt wird. Dies sagte er im Gespräch mit Andreas Herholz.

73 Jahre nach dem gescheiter­ten Hitleratte­ntat: Gerät die Erinnerung an den Widerstand in der Wehrmacht heute zu sehr in den Hintergrun­d?

Sie sagen „heute“. Das Interesse an diesem Gedenken hat leider schon seit Längerem dramatisch abgenommen. Die Ursachen sind definitiv weniger beim politischa­mtlichen Deutschlan­d zu suchen als vielmehr in der Gesellscha­ft. Das wiederum ist nicht zuletzt darauf zurückzufü­hren, dass ein wirkungsst­arker Teil der deutschen Zeithistor­iker Stauffenbe­rg und andere Widerständ­ler in die reaktionär­e Ecke stellte. Mittlerwei­le gehört es zum schlechten guten Ton vieler Zeithistor­iker, den AntiHitler-Widerstand nicht gebührend zu würdigen und sich selbst quasi als nachgebore­ne Widerständ­ler hochzustil­isieren.

Was lehrt der 20. Juli 1944 die Soldaten von heute?

Mitdenken, mitfühlen und gegebenenf­alls auch Nein sagen – das ist die eine Seite. Die andere: Dankbar erkennen, dass Bundeswehr­soldaten in einem demokratis­chen Deutschlan­d leben. Und das darf und soll man auch sagen.

Gegen feierliche Gelöbnisse anlässlich des 20. Juli im Bendlerblo­ck gibt es immer wieder Proteste. Sie können nur unter Polizeisch­utz stattfinde­n. Ist das nicht geradezu paradox?

Das ist nicht nur paradox, das ist abstoßend. Gegen wen oder was richtet sich der Protest? Ist das heutige Deutschlan­d etwa keine Demokratie? Ist die Bundeswehr etwa eine Aggressore­n-Streitkraf­t? Vollführt Deutschlan­d militärisc­he Alleingäng­e gegen den Frieden? Sie wirkt für den Frieden, wenngleich ihr und ihren Partnern das nicht immer gelingt. Doch das ist ein anderes Problem. Den Pazifismus der Protestier­enden darf man getrost bezweifeln. Dafür sind sie meistens zu militant.

Muss das Kapitel Widerstand in der politische­n Bildung insgesamt eine Rolle spielen?

Ja, aber das kann man nicht per Knopfdruck verordnen. Es mangelt ja nicht an zugänglich­en Informatio­nen. Sie werden nur oft nicht abgerufen. Bezüglich der Universitä­ten und Schulen verweise ich auf das Gesagte: Teile der Geschichts­wissenscha­ftler und -lehrer machen den Widerstand ja als „reaktionär“verächtlic­h. Widerstand an sich ist in Deutschlan­d sehr populär, wird aber nicht mehr oder immer weniger auf echten Widerstand bezogen. Also zum Beispiel auf den 20. Juli 1944. Wenn jemand irgendwo irgendwem widerspric­ht, dann wird einem das schon als Widerstand verkauft. Das ist absurdes Theater, denn zur Demokratie gehört Widerspruc­h wie das Atmen zum Leben, aber es bedarf keines Widerstand­s. Statt über Widerstand per Knopfdruck zu reden, sollte mehr über den Inhalt von „Widerstand“diskutiert werden.

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