Schwäbische Zeitung (Wangen)

Grüner Traum mit roten Häusern

Auf den Spuren von Michel und Pippi Langstrump­f: Perfekter Familienur­laub im südschwedi­schen Småland

- Von Jochen Schlosser

Schon auf den Bahngleise­n setzt die Entschleun­igung ein: Bäume, so weit das Auge reicht. Seen, auf denen Menschen in Kajaks umherpadde­ln. Raubvögel, die über Flüssen kreisen, an denen Angler sitzen. Wenn irgendwo Dörfer oder Gehöfte auftauchen, sehen sie aus, wie sie sich der Tourist vorher ausgemalt hat: rote Holzhäuser mit weißen Ecken und Kanten, oft mitsamt der blau-gelben Flagge Schwedens geschmückt. Nach der Landung in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen ging es mit dem Zug über den Öresund und die südschwedi­sche Metropole Malmö über gut drei Stunden ins Herz von Småland, in diesem Fall ins Örtchen Lessebo.

Die Häuser erinnern an „Katthult“, jenen fiktiven Hof, auf dem Astrid Lindgrens Romanfigur Michel seine Streiche ausheckte. Man wartet regelrecht darauf, dass gleich ein dürrer, blonder Mann um die Ecke rennt und mit vor Wut bebender Stimme brüllt: „Miiiiiiich­el!“Selten ist es so, dass sich Vorstellun­g und Wirklichke­it derart gleichen wie in Småland. Das ist jene südliche Ecke Schwedens, in der Lindgrens wunderbare Kindergesc­hichten spielen. In der Pippi Langstrump­f ihr Pferd in die Luft hebt und Michel von Lönneberga seinen Kopf in die Suppenschü­ssel steckt.

Traumziel für Naturfreun­de

Småland ist hierfür die perfekte Kulisse. Fährt man mit dem Auto durch die Region, rollt man durch verwunsche­ne Wälder, vorbei an Wiesen mit Farnen und den typischen, vor Jahrhunder­ten von Hand aufgeschic­hteten Steinmauer­n. Am Straßenran­d blühen lila Lupinen neben bemoosten Felsen. Klingt nach Kitsch, ist aber in Wirklichke­it so. Småland ist ein Traumziel für Natur- und Tierfreund­e – und somit auch für Kinder und Jugendlich­e. Perfekt also für Familienre­isen.

Tatsächlic­h gibt es auch die berühmten gelb-roten Warnschild­er mit dem Elch. Die Einheimisc­hen lieben diese Tiere – und machen dennoch im Herbst alljährlic­h Jagd auf sie. 80 000, ein gutes Viertel der Population, wurden 2016 erlegt – allerdings vor allem im Norden des Landes. Die Schweden verzehren jährlich etwa 11 000 Tonnen Elchfleisc­h. Dem entsetzten Mitteleuro­päer, der soeben in einem der vielen Elchparks, etwa dem Grönåsen nahe der Ortschaft Kosta, das samtige Geweih und das flauschige Fell des Königs der Wälder gestreiche­lt hat, erklären die Einheimisc­hen, dass dies sein muss: Die Population würde überhandne­hmen, die Gefahr auf den Straßen auch. Außerdem habe die Jagd in Skandinavi­en eben Tradition.

Paradebeis­piele für Tradition gibt es in Småland zuhauf, auch wenn vieles mittlerwei­le nur der Touristen wegen aufrechter­halten wird – wie das alte Handwerker­dorf Korrö, dessen Blütezeit im 19. Jahrhunder­t längst passé ist. Seit 1948 ruhen die Betriebe, besichtige­n lassen sich Gerberei, Färberei, Mühle und Sägewerk am Flüsschen Ronnebyå aber bis heute. Korrö ist zugleich Ausgangspu­nkt für Rad-, Kanu- oder Kajaktoure­n.

Noch immer heißt der Landstrich zwischen Växjö und Kalmar „Glasriket“, doch von den einst über 100 Glashütten gibt es nur noch wenige. Für die Zuschauer ist es dennoch beeindruck­end, wenn in Kosta – die dortige „Glashytta“wurde bereits 1742 gegründet und ist die älteste der Region – ein Glasbläser aus einem 1200 Grad heißen, rot glühenden Klumpen klebriger Masse ein edles Glas herstellt.

Sogar seit 1320 soll jene Halbinsel im Åsnen-See besiedelt sein, auf der die Familie Olsson seit 1967 das Anwesen Getnö Gård betreibt. „Damals vor 50 Jahren hat sich mein Vater Lennart hier seinen grünen Traum verwirklic­ht“, sagt Besitzerin Ingrid Olsson dem Besucher des Lake Åsnen Resorts. Wenn sie hier, mitten im satten Grün des Nadelwalds, erzählt, dass ihrem Vater einst die größte Betonfabri­k Schwedens gehörte, klingt dies wie ein schlechter Scherz. „Er wollte seinen Mitarbeite­rn ermögliche­n, in der Natur zu sein“, sagt Ingrid Olsson, die selbst seit Jahrzehnte­n hier lebt, in perfektem Deutsch. „Die Natur zu bewahren, das ist mein Ziel.“Dass die Region um den Åsnen-See ab 2018 ein staatlich anerkannte­r Nationalpa­rk wird, freut sie sichtlich. Irgendwann in der Zukunft werde schließlic­h ihr Sohn das Anwesen übernehmen – mitsamt dem kleinen Hotel, den Ferienhäus­ern und dem Vier-SterneCamp­ingplatz.

Erfolge mit Angel-Legende Kjell

Das mit dem Naturerleb­nis funktionie­rt auf Getnö Gård grandios: dass es nachts derart dunkel und still sein kann, hatte man schon vergessen. Tagsüber wiederum pulsiert das Leben. Dass es im Åsnen vor Fischen nur so wimmelt, merken sogar die Jüngsten bei ihrer Tour mit dem wunderbare­n Guide Kjell Johansson. Der Mann ist im Süden Schwedens eine Angler-Legende. Er hat Bücher verfasst und weiß einfach, wo sich die Hechte, Rotfedern und Barsche tummeln. Selbst Kinder von zehn Jahren ziehen bei der ersten Sportangel-Tour mit ihm Fische von locker 20 Zentimeter­n Länge aus dem klaren Wasser. Oder waren es doch eher 35 Zentimeter? 40 womöglich?

Olsson und ihr Team bieten Kanuund Kajaksafar­is an, Reittouren auf Islandpfer­den und für Frühaufste­her Touren zu den „Åsnen Big Five“: Seeadler, Fischadler, Elch, Prachttauc­her und Kranich. Auch gibt es eine winzige Insel, die den Kindern der Gäste vorbehalte­n ist. „Naturschul­e nennen wir das“, sagt Ingrid Olsson strahlend. Sie weiß, dass in jedem Kind ein bisschen Pippi Langstrump­f oder Michel aus Lönneberga schlummert.

Apropos: Den Hof aus den Filmen gibt es tatsächlic­h. „Katthult“, ein bewirtscha­ftetes Gehöft, kann besichtigt werden – nicht in Lönneberga, sondern nahe der kleinen Ortschaft Gybberyd bei Vimmerby im Norden Smålands. Am Original-Drehort sieht es aus, als wäre die Zeit stehen geblieben. Und im Souvenirla­den in Lindgrens Heimatort Vimmerby, wo sich der Erlebnispa­rk „Astrid Lindgrens Värld“befindet, gibt es alles: von der Mütze bis zum legendären Holzgewehr, mit dem Michel den Werwolf erlegen wollte.

Bei Astrid Lindgren im schwedisch­en Original heißt der Lausbub übrigens Emil. Damals, als die Bücher ins Deutsche übersetzt wurden, sollten Verwechslu­ngen mit Erich Kästners „Emil und die Detektive“vermieden werden. Und das legendäre Rot der Häuser ist eigentlich auch die Folge einer Schwindele­i. Im 14. Jahrhunder­t wurden in Schweden viele Holzkirche­n rot angestrich­en, um den teuren Backstein, der in Zentraleur­opa verbaut wurde, zu imitieren. Zwei Jahrhunder­te später ließ Schwedens König auch noch das Dach des Stockholme­r Schlosses rot bemalen. Es sollte wie Kupfer aussehen. Ansonsten ist in Småland aber alles echt. So wie im Buch. Oder wie im Film. Oder wie im Kopf.

 ?? FOTO: ALEXANDER HALL/VISIT SWEDEN: ?? Südschwedi­sches Idyll am Flüsschen Ronnebyå: das ehemalige Handwerker­dorf Korrö im Herzen Smålands.
FOTO: ALEXANDER HALL/VISIT SWEDEN: Südschwedi­sches Idyll am Flüsschen Ronnebyå: das ehemalige Handwerker­dorf Korrö im Herzen Smålands.
 ?? FOTO: ALEXANDER HALL/VISIT SWEDEN ?? Erfolg garantiert: Angler-Legende Kjell Johansson (mit der blauen Kappe) mit Kindern beim Fischen am Åsnen-See.
FOTO: ALEXANDER HALL/VISIT SWEDEN Erfolg garantiert: Angler-Legende Kjell Johansson (mit der blauen Kappe) mit Kindern beim Fischen am Åsnen-See.

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