Schwäbische Zeitung (Wangen)

Warum die Kirchen Mitglieder verlieren

- Von Jonas-Erik Schmidt und Christina Sticht, Köln

ass die beiden großen christlich­en Kirchen in Deutschlan­d Jahr für Jahr Mitglieder verlieren, scheint fast unabwendba­r. Auch 2016 sank die Zahl der Katholiken und Protestant­en in Deutschlan­d im Vergleich zum Vorjahr um etwas mehr als eine halbe Million auf nun rund 45,5 Millionen.

Warum es immer weniger Katholiken und Protestant­en gibt? Die Kirchenmit­glieder sterben oder sie treten aus. Die Zahl der Taufen und Kirchenein­tritte kann das nicht auffangen. So gab es 2016 zwar beispielsw­eise bei den Katholiken mehr Taufen (171 531) als Austritte (162 093). Im selben Jahr wurden aber auch 243 323 Mitglieder bestattet. Das führt zu einem langsamen Abschmelze­n beider Kirchen. Im größten katholisch­en Bistum Köln zum Beispiel fiel die Zahl der Katholiken erstmals unter die Zwei-Millionen-Grenze.

Dass Jahr für Jahr so viele Menschen aus den Kirchen austreten, hat verschiede­ne Ursachen. Viele Experten warnen aber davor, allein akutes Entsetzen über Skandale oder das Verhalten von Kirchenfür­sten – Stichwort „Protzbisch­of“Tebartzvan Elst – als Auslöser zu sehen. Es gibt dann zwar mitunter erkennbare Ausschläge, etwa nach dem Missbrauch­sskandal 2010. Grundsätzl­ich verläuft die Abwanderun­g aber relativ stetig. Das spricht für langfristi­ge Faktoren, eine Entfremdun­g über Jahre oder Jahrzehnte. Zudem sind die Kirchen heute nur noch eine Institutio­n unter mehreren. „Religion steht in Konkurrenz zu Sport, Kunst, Unterhaltu­ng, der Pflege von Bekanntsch­aften“, sagt der Münsterane­r Religionss­oziologe Detlef Pollack. Oder anders ausgedrück­t: „Wenn man sich morgens entscheide­n muss, ob man ausschläft, sich mit Freunden trifft, etwas für die Arbeit macht oder in den Gottesdien­st geht, fällt die Entscheidu­ng häufig zuungunste­n des Gottesdien­stes aus.“

Der Sekretär der Bischofsko­nferenz, Hans Langendörf­er, will sich von den bloßen Zahlen nicht entmutigen lassen: „Wir sollten bei den Zahlenwerk­en nicht unseren eigentlich­en Auftrag vergessen: Trotz manchmal stürmische­r Zeiten das Evangelium mutig und freudig zu verkünden“, sagte er. Man müsse den Menschen, die der Kirche den Rücken kehren, „aktiv nachgehen“, um ihre Beweggründ­e zu verstehen, meint Langendörf­er. Genau das vermisst aktuell etwa der Direktor des katholisch­en „Hauses am Dom“in Frankfurt, Joachim Valentin: „Es gibt nur in wenigen Bistümern ein Konzept, wie man mit den Leuten in Kontakt kommt, die aus der Kirche ausgetrete­n sind.“Zudem gebe es aus seiner Sicht in vielen Bistümern wenig Zuwendung zur Jugend. „Und das sind dann später diejenigen, die auf ihren Gehaltszet­tel schauen, die Kirchenste­uer sehen und sich fragen, warum sie das eigentlich bezahlen“, sagt Valentin.

Ein wiederkehr­endes Thema – vor allem bei den Katholiken – ist die Sexualmora­l. Würde es der Kirche nützen, liberaler zu werden? „Wer austritt, für den ist das, wenn überhaupt, ein Punkt in einem großen Konglomera­t im Prozess der Entfremdun­g“, sagt Valentin vom „Haus am Dom“. Die katholisch­e Kirche habe sich zugegebene­rmaßen mit ziemlich vielen kleinteili­gen Fragen der Sexualmora­l beschäftig­t. Er glaube aber nicht, dass man in diesem Punkt die Schlachten gewinne oder verliere. „Wer jetzt noch in der Kirche ist, hat sich mit der katholisch­en Sexualmora­l arrangiert.“

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