Gemeinde bietet Heimat für Russisch-Orthodoxe
In der evangelischen Kirche in Weißenau wird alle zwei Wochen Gottesdienst gefeiert
RAVENSBURG - Alle zwei Wochen verwandelt sich die kleine evangelische Kirche im Klostergebäude Weißenau in ein russisch-orthodoxes Gotteshaus. Dann kommt Vater Dimitrij, ein Priester der russisch-orthodoxen Kirche im Ausland, eigens aus Saarbrücken angereist, um mit der kleinen Gemeinde einen typischen Gottesdienst zu feiern: mit viel Gesang, Ikonen und Kerzen. Die Frauen tragen traditionell Kopftuch, viele Kinder sind gern gesehen.
„Vater Dimitrij“, mit bürgerlichem Namen Dimitrij Svistov, überrascht mit seinem Äußeren: ein hochgewachsener, noch jugendlich wirkender Mann im schwarzen langen Habit mit langem Wallehaar und Bart. Der 39-Jährige, der mit sanfter Stimme und bestimmtem Auftreten Respekt einflößt, kommt aus Saarbrücken, wo er in der Gemeinde der Heiligen Eugenia wirkt und außerdem noch einige auswärtige Gemeinden betreut. Die weiteste Anreise legt er für seine „Schäfchen“in Ravensburg zurück. Die Gläubigen kommen bis aus Bregenz und Biberach, um im russisch-orthodoxen Ritus in Weißenau Gottesdienst zu feiern, um Beichte, Eucharistie, Taufe und kirchliche Feste im traditionellen Rahmen zu begehen.
Alle zwei Wochen am Samstag (im September am zweiten und vierten Samstag) ab 8.30 Uhr kann die evangelische Kirche in Weißenau als Gottesdienstraum genutzt werden. Dafür ist Vater Dimitrij dem evangelischen Pfarrer Hans-Dieter Schäfer, der ihm dieses Gastrecht gewährt, sehr dankbar. Und doch träumt die kleine russisch-orthodoxe Gemeinde davon, irgendwann ein eigenes Gotteshaus zu haben, gekrönt von dem für orthodoxe Kirchen typischen Zwiebelturm, golden und farbenprächtig glänzend. Solcher Glanz ist in der barocken Kapelle in Weißenau schlecht herbeizuzaubern, denn das für orthodoxe Feiern übliche Meer brennender Kerzen wird vom Denkmalschutz nicht geduldet: Der Kerzenrauch schwärzt die weißen Stuckwände und -decken.
Eigentlich, so schätzt und hofft Vater Dimitrij, müsste die russisch-orthodoxe Gemeinde in Ravensburg groß sein, sehr groß. Mindestens 20 000 Menschen, russischstämmig oder der russischen Sprache mächtig und viele davon orthodox getauft, lebten im Einzugsgebiet, im Umkreis von 40 Kilometern. Ihnen ein Gemeindeleben zu bieten und die russische Sprache zu pflegen, den Kindern die Grundlagen des christlichen Glaubens zu vermitteln, das ist das Anliegen des orthodoxen Priesters. Das stehe einer wünschenswerten Integration in die deutsche Gesellschaft keineswegs entgegen, betont er sogleich. Natürlich seien auch Deutsche willkommen, ebenso orthodoxe Gläubige anderer Landeskirchen, Serben, Bulgaren, Georgier beispielsweise. Neben Ansprachen in Russisch und Deutsch ist die Gottesdienstsprache ohnehin „Kirchenslawisch“, ein altertümliches Russisch aus dem 17. Jahrhundert.
Auf sein geschliffenes, fehlerfreies Deutsch angesprochen, lächelt Dimitrij Svistov sanft und entgegnet ironisch: „Ich hatte ja auch 27 Jahre Zeit, es zu lernen.“Geboren in Moskau, kam er als Zwölfjähriger mit seinen Eltern nach Deutschland, ging hier zur Schule, machte deutsches Abitur, studierte Orchestermusik und wollte eigentlich mit seinem Instrument, der Geige, eine Musikerlaufbahn einschlagen. Warum dann die Priesterlaufbahn? „Die Musik sollte den Menschen reiner und besser machen. Aber geistiges Leben dient mehr dazu“, erklärte Dimitrij. Deshalb habe er schon mit 19 Jahren den Zugang zur russisch-orthodoxen Kirche gesucht, absolviert derzeit noch ein Fernstudium der orthodoxen Theologie in Kiew, wirkt aber bereits seit 13 Jahren als Gemeindepriester. Vielen Menschen „mit russischen Wurzeln“, die noch zu Sowjetzeiten kirchenfern leben mussten und auch in Deutschland keinen Anschluss mehr an die Orthodoxie gefunden haben, will er eine kirchliche Heimat bieten. Dafür fährt er gern alle zwei Wochen von Saarbrücken nach Ravensburg und wieder zurück.
Der gebürtigen Moskowiterin Irene Usselmann, die seit über 20 Jahren in Ravensburg lebt, ist es beispielsweise ein großes Anliegen, dass es in Ravensburg eine orthodoxe Gemeinde gibt. Ihre orthodox getauften erwachsenen Kinder hätten bisher kaum die Möglichkeit gehabt, ein „geistiges Leben“zu praktizieren. Bisher seien sie in die Kirche nach Ulm gefahren. Dass sie jetzt hier, direkt vor der Haustüre, in eine russisch-orthodoxe Kirche gehen können, betrachte sie geradezu „als Wunder“.