Auf einem Bein ist doch gut stehen
Ian Anderson, Mitbegründer von Jethro Tull, einer der ungewöhnlichsten Rockbands, wird heute 70 Jahre alt
LONDON (dpa) - Aufgerissene Augen, krause, abstehende lange Haare, ein zerzauster Bart und auf einem Bein tanzend wie ein hyperaktiver Flamingo in edlen Retro-MittelalterKlamotten – das war Ian Anderson in den Siebzigern. Inzwischen spielt er immer noch Querflöte und balanciert dabei auf einem Bein, aber nun wirkt er wie ein Musiklehrer im Rentenalter, die Halbglatze unterm Piratenkopftuch versteckt.
Ian Anderson ist Jethro Tull. „Die Musik ist praktisch komplett und die Texte sind zu 100 Prozent von mir geschrieben“, sagte er der Musikzeitschrift „Rolling Stone“. „In gewisser Weise fühle ich mich als Eigentümer.“Für mehr als 30 verschiedene Musiker war Jethro Tull nur eine Durchlaufstation. Anderson blieb als einziger der Band treu. Heute feiert das Multitalent – Musiker, Songwriter, Manager – seinen 70. Geburtstag.
Der junge Ian wächst in Edinburgh auf. „Als ich ein Teenager war, hörte ich keine laute Rockmusik“, verrät er „Rolling Stone“. „Ich hörte Jazz und Blues und Folk.“Seine Band ist so erfolglos, dass sie sich häufig umbenennt, um mehr Gigs zu bekommen. Schließlich werden sie vom legendären Marquee Club in London ein zweites Mal gebucht, der Name „Jethro Tull“bleibt kleben.
Der bekannteste Agrarpionier
Damit kokettiert Anderson bis heute. „Ich bin schuld am Identitätsdiebstahl und sollte dafür wirklich ins Gefängnis gehen“, sagte er dem „Guardian“. Jethro Tull war ein britischer Agrarpionier im 17. Jahrhundert, der vor allem durch seinen Kampf gegen Unkraut bekannt wurde.
Den Durchbruch schaffte die Band 1969 mit dem Blues-Album „Stand Up“– sie werden für ihre ungewöhnliche Mischung aus Progressive Rock, Jazz, Blues und Folk bekannt. Im April 1972 vereinigt Jethro Tull alles, was Fans jemals an Progrock liebten oder hassten in einem 44-minütigen Album, das aus einem einzigen Song besteht: „Thick as a Brick“. Für viele eine Parodie des Genres, aber ein kommerzieller Erfolg.
Doch selbst während ihrer Blütezeit zwischen 1968 und 1972 sind Jethro Tull nie eine klassische Rock’n’Roll Band: Nach der Show gehen die Musiker in ihre Hotelzimmer und lesen noch ein Buch vor dem Einschlafen, denn um 8 Uhr morgens geht es wieder los. „Jüngere Band- mitglieder lernen schnell, dass es ein Job ist, keine Party“, erklärte Anderson dem „Telegraph“. Jeder müsse selbst seine Minibar bezahlen. Kein Wunder, dass er es liebt, das BandBudget mit Exceltabellen zu optimieren.
Seit mehr als 40 Jahren ist er mit Shona verheiratet; sie haben zwei erwachsene Kinder und mehrere Enkelkinder und leben in einem alten Landhaus mit Aufnahmestudio in einem Dorf in Wiltshire im Südwesten Englands. In den 90er-Jahren besaßen sie elf Lachsfarmen und beschäftigten 400 Mitarbeiter.
Keinen Bock auf lauten Rock
Überhaupt entspricht Anderson so gar nicht dem Bild eines Rockstars. Er unterstützt die anglikanische Kirche und hasst laute Rockkonzerte, nach 20 Minuten langt es ihm meistens und er geht: „Du kannst gewaltig und dramatisch sein ohne ohrenbetäubende Dezibel“, erklärte er „Rolling Stone“. „Symphonieorchester schaffen das sehr gut. Beethoven konnte sich nicht auf einen 200-WattVerstärker verlassen.“
Seit ihrem Auftritt im Marquee Club haben Jethro Tull über 30 Alben herausgebracht und mehr als 60 Millionen Platten verkauft. Ian Anderson produzierte sechs Soloalben. Ende 2016 nahm er „Jethro Tull: The String Quartets“mit dem Carducci Quartett auf, teilweise im Gewölbe der Kathedrale von Worcester. Der Klassiker „Aqualung“wird zur Fuge, „Locomotive Breath“beginnt mit einem Cellosolo nach Bach. „Das hat ziemlich viel Spaß gemacht“, gestand Anderson in einem Interview mit der Plattform Eon Music.
Nach seinem 70. Geburtstag wird er in den USA mit Jethro Tull touren, bevor er vom 23. September an in Deutschland auftritt.