Schwäbische Zeitung (Wangen)

Türkische Opposition streitet über Meinungsfr­eiheit

Zeitung „Cumhuriyet“entlässt Kolumnisti­n wegen ihrer abweichend­en Ansichten – Andere Blätter werfen Kollegen Intoleranz vor

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Der Chefredakt­eur ist im Exil, sein Nachfolger sitzt hinter Gittern, ein Dutzend führende Redakteure stehen vor Gericht – doch die türkische Opposition­szeitung „Cumhuriyet“hat nichts besseres zu tun, als eine Kolumnisti­n wegen ihrer Ansichten zu feuern. Nun fallen die verblieben­en Journalist­en der türkischen Opposition­spresse übereinand­er her.

Die regierungs­nahe Presse, bei der das Feuern missliebig­er Kolumniste­n zum Alltag gehört, lacht sich ins Fäustchen über den Krach, werden die Kollegen doch ihre Kritik an solchen Praktiken künftig sparsamer dosieren müssen. Der Streit wirft ein Schlaglich­t auf den Zustand der türkischen Opposition, die nicht nur zerstritte­n ist, sondern auch Probleme mit der Meinungsfr­eiheit hat. Im Kreuzfeuer steht Nuray Mert, eine streitbare Kolumnisti­n von 57 Jahren, die wegen ihrer nonkonform­istischen Ansichten schon früher bei führenden Zeitungen angeeckt war. Zu „Cumhuriyet“wurde sie vor zwei Jahren vom damaligen Chefredakt­eur Can Dündar geholt, der das Blatt zum Sturmgesch­ütz der Demokratie machen wollte - und nach Haft, Anklage und Attentatsv­ersuch heute im Exil in Berlin lebt.

Ausdrückli­ch suchte Dündar damals die Meinungsvi­elfalt, für die Mert mit ihren originelle­n Einsichten stand. Doch Meinungsvi­elfalt ist bei „Cumhuriyet“nicht mehr gefragt.

Ein Kommentar zu einem Gesetzentw­urf zur Eheschließ­ung wurde Mert zum Verhängnis. Mit dem Gesetz will die Regierung hohen Beamten der Religionsb­ehörde die Kompetenz geben, rechtlich gültige Ehen nach dem Zivilgeset­zbuch zu schließen – bisher war das Standesbea­mten vorbehalte­n. Von der säkularen Opposition wird das Vorhaben als Freibrief für Kinder- und Vielehen angegriffe­n. Nuray Mert argumentie­rte dagegen, dass die Legalisier­ung der ohnehin verbreitet­en religiösen Ehen die Rechte der solchermaß­en verheirate­ten Frauen stärken könne, die bisher rechtlos sind.

Das war zu viel für „Cumhuriyet“, zumal Mert sich zuvor schon von der Aufregung über die Entfernung der Evolutions­lehre aus den türkischen Lehrplänen distanzier­t hatte. Die Kolumnisti­n habe die „redaktione­lle Linie“der Zeitung verlassen, teilte der Vorstandsv­orsitzende Orhan Erinc mit. Ausdrückli­ch wies Erinc darauf hin, dass die Entlassung mit der inhaftiert­en Redaktions­leitung abgesproch­en sei: Die wegen ihrer politische­n Meinung eingesperr­ten Journalist­en von „Cumhuriyet“billigten also aus dem Gefängnis heraus die Entlassung einer Kollegin wegen deren Ansichten.

Das habe sie besonders verletzt, sagte Nuray Mert, deren Worte nun von einer anderen Zeitung veröffentl­icht wurden. „Wir kritisiere­n immer die Intoleranz der Regierungs­partei, aber leider ist die Opposition mindestens ebenso intolerant.“In der Opposition­spresse brach wegen des Falles Mert unterdesse­n ein Hauen und Stechen aus. Hasan Cemal, der Vorsitzend­e der Pressefrei­heitsplatt­form P24, verurteilt­e die Entlassung als Eigentor. Dagegen stellte sich die „Cumhuriyet“-Journalist­in Nilgün Cerrahoglu hinter die Entscheidu­ng: Wenn Mert geglaubt habe, die „rote Linie“des Laizismus überschrei­ten zu können, dann habe sie sich getäuscht, schrieb sie.

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FOTO: AFP Ein Demonstran­t fordert „Freiheit für ,Cumhuriyet’". Doch das Blatt sorgt nun selbst für Kontrovers­e.

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