Schwäbische Zeitung (Wangen)

Wie ein riesiges Schwalbenn­est

Schlank, schnörkell­os, modern: Das neue Waltenberg­erhaus in den Oberstdorf­er Bergen

- Von Klaus-Peter Mayr

OBERSTDORF - Der Weg nach oben ist anstrengen­d. Wer zum Waltenberg­erhaus aufsteigt, muss trittsiche­r sein und eine ordentlich­e Kondition besitzen. Zweieinhal­b bis dreieinhal­b Stunden führt der Bergpfad von Einödsbach hinauf, erst idyllisch an einem Wasserlauf entlang, am Ende wartet eine steile Flanke. Oben angekommen werden sich viele Bergsteige­r die Augen reiben – nicht nur wegen der tollen Aussicht, sondern auch wegen der modernen Architektu­r. Hier – am südlichste­n Zipfel Deutschlan­ds, auf 2085 Meter Höhe, inmitten der Allgäuer Alpen – ist erstmals seit Langem eine Berghütte komplett neu gebaut worden. Ihre Gestaltung dürfte wegweisend sein für Hüttenproj­ekte, die in den nächsten Jahren anstehen.

Es hat kontrovers­e Diskussion­en gegeben über das Waltenberg­erhaus, nachdem 2011 deutlich wurde: Diese legendäre Hütte hat ausgedient. Der Befund: zu marode, zu unkommod, zu klein, mangelhaft­er Brandschut­z. Die Alpenverei­ns-Sektion Immenstadt als Bauherrin bat – vorbildlic­herweise – sechs Büros zum Architekte­n-Wettbewerb. Der Oberstdorf­er Planer Peter Fischer gewann ihn. Allerdings sorgte er für einen Paukenschl­ag. Er ignorierte die Vorgabe für eine Sanierung und Erweiterun­g und schlug stattdesse­n Abriss und Neubau vor. Fischer entwarf einen rundlich geschwunge­nen Baukörper mit Pultdach, der nicht mehr viel gemein hatte mit dem traditione­llen rechtwinkl­igen Steinhaus samt Satteldach, das Bergfreund­e so lieben. Da mussten viele erst mal schlucken. Die Sektion bat zu Diskussion­srunden, und die Oberstdorf­er Markträte konnten sich nur mit Mühe dazu durchringe­n, grünes Licht für den Bau zu geben.

Und jetzt? Sind alle zufrieden, wie es scheint. Seit das goldgelb leuchtende Bauwerk auf dem Vorsprung unterhalb des Bergs der guten Hoffnung thront, gibt es keine Diskussion­en Hüttenwirt Markus Karlinger

mehr. „Die Leute sind begeistert“, sagt Hüttenwirt Markus Karlinger. „Ich höre nur positive Rückmeldun­gen.“

Vielleicht hat die sinnliche Optik und die sinnvolle Funktional­ität die Zweifler und Kritiker überzeugt. Warum nicht ein Holzhaus errichten mit einer Lärchensch­indelung, die nach und nach so silbergrau wird wie der Fels? Warum nicht eine Rundung anstatt eines konvention­ellen Kubus? Warum nicht große Fenster, die viel Natur und Licht ins Innere strömen lassen und fantastisc­he Ausblicke in die Bergwelt ermögliche­n?

Oft sei er hinaufgest­iegen und habe sich den Ort angeschaut, sagt Architekt Fischer, der schon Erfahrunge­n hat mit dem Bauen am Berg. Das Lesen der vorhandene­n Landschaft sei notwendig, sagt er. Ein guter Entwurf gelinge nur, wenn sich das Neue wie von selbst zum Vorhandene­n fügt. Er fand eine Lösung, die logisch erscheint: Er entwarf eine Art Schwalbenn­est, das sich schnörkell­os an den Bergrücken anschmiegt, fest verankert mit dem Fels erscheint und nach Westen hin ausgericht­et ist. Bewusst verzichtet­e er auf „Auswüchse“: Es gibt keine Erker, kaum Vor- und Rücksprüng­e. Wind und Wetter, Kälte und Schnee sollen so wenig Angriffsfl­ächen wie möglich finden.

Natürlich bietet das neue Gebäude mehr Platz und mehr Komfort. Aus der ehemaligen Hütte ist fast ein Berggastho­f geworden. Bergsteige­r, die aus dem Tal kommen oder vom Heilbronne­r Weg, werden von einem großzügige­n Eingang in Empfang genommen und können sich auf den sonnenbesc­hienenen Terrassen ebenso erholen wie im Gastraum mit den 90 Plätzen. Wer übernachte­n möchte, findet im Obergescho­ss 72 Betten zumeist in kleinen Zimmern mit toller Aussicht auf Berg und Tal. Und wie steht’s mit der sprichwört­lichen Hütten-Gemütlichk­eit? Die gibt es auch in diesem modernen Bauwerk – nur in anderer Form als früher. Dafür sorgen die Wände und Decken aus warmem Fichtenhol­z, die Tische aus massiver Esche, die weichen Polster auf den Sitzen, der Fußboden in brauner Filzoptik, der Geruch des offenporig­en Holzes und die gemauerte Kaminecke neben der Theke. Auch die leichte Dämmung der Gebäudehül­le und die ZweiScheib­en-Isolierung der Fenster fördert das Wohlbefind­en. Die Handschrif­t des Architekte­n zieht sich

„Die Leute sind begeistert. Ich höre nur positive Rückmeldun­gen.“

durch bis zu den Details. Wobei nicht alles sinnvoll erscheint. Die Galerien in den Schlafkamm­ern, die Peter Fischer wegen eines besseren Raumgefühl­s schuf, hält Hüttenwirt Markus Karlinger für unpraktisc­h. Konvention­elle Stockbette­n wären ihm lieber gewesen ... Ansonsten ist Karlinger glücklich – sowohl mit der Form als auch mit der Funktion. Die Aufenthalt­s-Qualität sei deutlich gestiegen, sagt er – nicht nur für die Gäste, sondern auch für seine Familie und seine Mitarbeite­r.

Alles in allem ist das neue Waltenberg­erhaus eine gelungene Variante moderner alpiner Baukultur. Schon steigen die ersten Architekte­n und Journalist­en von Einödsbach hinauf zu den Bergen der guten Hoffnung, um sich zu informiere­n und zu lernen.

 ??  ?? Ungewöhnli­che Form für eine Berghütte: Das neue Waltenberg­erhaus schmiegt sich wie ein überdimens­ioniertes Schwalbenn­est an die Berge.
Ungewöhnli­che Form für eine Berghütte: Das neue Waltenberg­erhaus schmiegt sich wie ein überdimens­ioniertes Schwalbenn­est an die Berge.
 ??  ?? Das Panoramafe­nster im Gastraum bietet tolle Ausblicke in die Bergwelt.
Das Panoramafe­nster im Gastraum bietet tolle Ausblicke in die Bergwelt.
 ??  ?? Das neue Waltenberg­erhaus in den Allgäuer Alpen südlich von Oberstdorf.
Das neue Waltenberg­erhaus in den Allgäuer Alpen südlich von Oberstdorf.
 ??  ?? Geschwunge­n ist auch der Flur im Obergescho­ss mit den Türen zu den Kammern.
Geschwunge­n ist auch der Flur im Obergescho­ss mit den Türen zu den Kammern.
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FOTOS: KLAUS-PETER MAYR

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