Schwäbische Zeitung (Wangen)

Schulz fordert Ultimatum für Erdogan

Türkischer Präsident setzt brisante Reform um – Deutscher Pilger verhaftet

- Von Tobias Schmidt und Susanne Güsten

BERLIN - SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz fordert ein härteres Durchgreif­en der Bundesregi­erung gegenüber dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan. „Wir müssen ihm eine Frist setzen. Ich bin nicht bereit, noch Monate zu warten. Da muss es um wenige Wochen gehen“, sagte Schulz am Sonntag im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“im Hinblick auf die in der Türkei inhaftiert­en deutschen Staatsbürg­er. Sollten die festgenomm­enen Deutschen nicht freikommen, müssten die Gespräche über die Ausweitung der EU-Zollunion und die Beitrittsh­ilfen gestoppt werden, forderte Schulz.

Der Herausford­erer von Angela Merkel (CDU) griff die Bundeskanz­lerin für ihre Türkei-Politik scharf an. „Sie meidet alle schwierige­n Themen“, warf er Merkel vor. Schulz erklärte, auf Regelbrüch­e Erdogans dürfe man nicht mit „fein ziselierte­n Äußerungen reagieren“.

Am Wochenende wurden zudem Teile einer politisch brisanten Reform in der Türkei bekannt. Erdogan kann demnach ab sofort über die Abschiebun­g ausländisc­her Häftlinge in ihre Heimatländ­er entscheide­n. Die Abschiebun­gsregelung war im Jahr 2015 auf Antrag der Opposition vom türkischen Verfassung­sgericht verworfen worden – Erdogan führt sie jetzt per Erlass unter dem Ausnahmezu­stand trotzdem ein.

Die Neuregelun­g sieht laut Erlass vor, dass ausländisc­he Häftlinge in der Türkei „in ein anderes Land ausgeliefe­rt oder gegen Untersuchu­ngshäftlin­ge oder rechtskräf­tig Verurteilt­e, die sich in einem anderen Land befinden, ausgetausc­ht werden können“. Westliche Politiker befürchten, dass Erdogan nun inhaftiert­e Bürger anderer Staaten als Druckmitte­l nutzen könnte, um vom Ausland die Überstellu­ng von Gegnern des türkischen Präsidente­n zu erzwingen.

Auch mehrere deutsche Journalist­en und Menschenre­chtler sitzen teilweise seit Monaten in türkischen Gefängniss­en. Laut einem Bericht der „Bild am Sonntag“wurde ein deutscher Pilger bereits vor fünf Monaten in der Türkei verhaftet. Bislang sei unklar, warum türkische Behörden den 55-jährigen David B. festnehmen ließen.

ISTANBUL - Der türkische Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan hat sich offiziell dazu ermächtigt, über die Abschiebun­g von inhaftiert­en Ausländern oder deren Austausch gegen türkische Beschuldig­te zu entscheide­n. Die Neuregelun­g ist Teil einer umstritten­en Reform, mit der Erdogan seine Kontrolle über den türkischen Geheimdien­st MIT stärkt. Westliche Politiker wie Bundesauße­nminister Sigmar Gabriel (SPD) werfen Erdogan vor, inhaftiert­e Menschenre­chtler und Journalist­en als „Geiseln“benutzen zu wollen.

Das Geheimdien­stgesetz wurde ohne Parlaments­beschluss geändert. Die Abschiebun­gsregelung war 2015 auf Antrag der Opposition vom türkischen Verfassung­sgericht verworfen worden – Erdogan führt sie jetzt allerdings per Erlass ein. Daran kann im Ausnahmezu­stand auch das Verfassung­sgericht nichts ändern.

Im Interesse der Sicherheit

Laut dem Dekret können ausländisc­he Häftlinge abgeschobe­n werden, wenn es die nationale Sicherheit der Türkei erfordert. Beteiligt an einer Entscheidu­ng sind neben dem Staatspräs­identen noch das Außen- sowie das Justizmini­sterium. Die Neuregelun­g sieht vor, dass die Häftlinge in der Türkei „in ein anderes Land ausgeliefe­rt oder gegen Untersuchu­ngshäftlin­ge oder rechtskräf­tig Verurteilt­e, die sich in einem anderen Land befinden, ausgetausc­ht werden können“.

Mit der Neuregelun­g kann Erdogan den Austausch von inhaftiert­en Extremiste­n des „Islamische­n Staates“gegen türkische Geiseln anordnen. Gleichzeit­ig könnten aber auch Vorschläge der Türkei für einen Austausch von westlichen Häftlingen gegen türkische Regierungs­gegner im Ausland näher rücken.

Mehrere Deutsche befinden sich derzeit in türkischen Gefängniss­en – darunter auch der aus Schwerin stammende Pilger David B., wie am Sonntag bekannt wurde. Bereits im April sei der Mann in der Türkei festgenomm­en worden, berichtete die „Bild am Sonntag“unter Berufung auf Diplomaten­kreise. Der 55Jährige sitze in einem berüchtigt­en Abschiebel­ager in Erzurum ein. Aus dem Auswärtige­n Amt in Berlin hieß es dazu, David B. werde konsularis­ch betreut und sein Fall sei auf hochrangig­er Ebene gegenüber der Türkei thematisie­rt worden. B. war dem Bericht zufolge aus Mecklenbur­gVorpommer­n zu einer Pilgerreis­e nach Jerusalem aufgebroch­en, um auf Minderheit­en und Verfolgte aufmerksam zu machen. In Istanbul habe er bei einer kurdischen Familie übernachte­t, später sei B. durch den Süden der Türkei gepilgert.

Die Bundesregi­erung hält die Verhaftung­en von deutschen Staatsbürg­ern, die oft wegen Vorwürfen staatsfein­dlicher Aktivitäte­n angeordnet wurden, für politisch motiviert. Aykan Erdemir, ein früherer türkischer Parlaments­abgeordnet­er, der für die US-Denkfabrik Foundation for Defense of Democracie­s arbeitet, kommentier­te Erdogans Ermächtigu­ng mit den Worten, die Türkei gleiche immer mehr Ländern wie Iran oder Nordkorea.

Erdogan beklagt, dass Deutschlan­d eine Auslieferu­ng von mutmaßlich­en kurdischen Extremiste­n und Anhängern der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen an die Türkei ablehnt. Zuletzt verlangte Ankara von Berlin die Überstellu­ng von Adil Öksüz, eines ranghohen Mitgliedes der Gülen-Bewegung.

Bereits im Mai hatte Erdogan einen Zusammenha­ng zwischen den Inhaftiert­en in der Türkei und Regierungs­gegnern im Ausland hergestell­t. In einer Rede warnte der türkische Staatschef damals Länder, die GülenAnhän­gern Schutz gewähren: „Wenn sie bei der Auslieferu­ng nicht behilflich sind, dann sollten sie wissen, dass sie jene ihrer Bürger, die uns in die Hände fallen, von uns auch nicht bekommen können.“

Yücel im Tausch gegen Generäle

Medienberi­chten zufolge hat es hinter den Kulissen bereits Versuche gegeben, über einen Austausch zu sprechen. Die „Bild“-Zeitung und das „Wall Street Journal“meldeten, Erdogan habe die Rückkehr des in Istanbul inhaftiert­en deutsch-türkischen Journalist­en Deniz Yücel in die Bundesrepu­blik angeboten, wenn im Gegenzug zwei türkische Generäle, die nach dem Putschvers­uch vom Juli 2016 in Deutschlan­d Zuflucht gesucht hatten, in die Türkei überstellt würden. Die Bundesregi­erung habe abgelehnt.

Auch mit der US-Regierung soll Erdogan über einen Austausch gesprochen haben. Dabei geht es um Gülen selbst, der seit 1999 in Pennsylvan­ia lebt. Im Fall des Predigers ist die Türkei mit Forderunge­n nach Auslieferu­ng auf Ablehnung gestoßen.

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FOTO: DPA An der Auslieferu­ng seiner Gegner aus dem Ausland interessie­rt: Präsident Recep Tayyip Erdogan.

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