Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Jamaika halte ich für unwahrsche­inlich“

FDP-Chef Christian Lindner über Entspannun­gspolitik, Zuwanderun­g und mögliche Koalitione­n nach der Wahl

-

DÜSSELDORF - Der FDP-Vorsitzend­e Christian Lindner unterstütz­t in der Flüchtling­spolitik den Kurs des französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron, Aufnahmeze­ntren für Flüchtling­e in Nordafrika einzuricht­en. „Dort muss geprüft werden, ob die Antragstel­ler Flüchtling­e, Asylberech­tigte oder Migranten, die ihr Glück suchen, sind“, sagte der FDPSpitzen­kandidat im Gespräch mit Hendrik Groth und Claudia Kling. Zugleich sprach sich Lindner dafür aus, für Flüchtling­e einen neuen Rechtsstat­us in Deutschlan­d zu schaffen. Eine Jamaika-Koalition nach der Bundestags­wahl nannte er „unwahrsche­inlich“– wegen der Positionen der Grünen.

Herr Lindner, ist die FDP eigentlich die einzige Partei, die Wahlkampf nötig hat?

Wir sind offensicht­lich die einzige Partei, die richtig Lust auf Wahlkampf hat. Jetzt entscheide­t sich der Weg Deutschlan­ds ins nächste Jahrzehnt. Wir möchten, dass unser Land ein starkes Land bleibt, deshalb sind wir so tatendurst­ig. Die große Koalition hat von der Bildung über die Digitalisi­erung, die Einwanderu­ng bis zum wirtschaft­lichen Vorankomme­n der Menschen viele ungelöste Aufgaben hinterlass­en.

Sind Sie zufrieden mit Ihrer Kampagne? Sie werden ja auch etwas spöttisch wahlweise als Hemdenoder Parfümmode­l bezeichnet.

Die FDP hat soviel Programm auf den Plakaten wie keine andere Partei. Wir wollen eine inhaltlich­e Debatte mit den Menschen eröffnen, weil wir die Verliebthe­it in den Status quo, wie sie in Deutschlan­d mit Händen zu greifen ist, für die größte Gefahr unseres Landes halten. Wenn man wie die CDU nur „weiter so“sagt, oder wie die SPD nur „zurück“oder wie die Grünen nur im Wunschdenk­en verharrt, dann verspielen wir den Wohlstand unseres Landes und seine Chancen.

In welchem Teich wollen Sie damit eigentlich fischen?

Unsere Zielgruppe teilt ein Lebensgefü­hl, hat aber nicht das gleiche Alter, den gleichen Beruf oder das gleiche Einkommen. Es sind die Menschen, die selbstbest­immt leben wollen, die verantwort­ungsbewuss­t, tolerant und weltoffen sind. Die sich einen Staat wünschen, der kein Aufsehen, passer und kein Besserwiss­er ist, sondern ein Schiedsric­hter und ein Partner, der ihnen die Hürden aus dem Weg räumt.

Ihren Vorschlag, den Konflikt um die von Russland annektiert­e Halbinsel Krim einzufrier­en, könnte man aber auch als Angebot an ehemalige FDP- und jetzt AfDWähler verstehen, zur FDP zurückzuke­hren. In der AfD finden sich ja zahlreiche Putinverst­eher.

Das ist keineswegs so. Meine Position entspricht der Linie der deutschen Entspannun­gspolitik seit 1969: Härte mit Dialogange­boten zu kombiniere­n. Wenn es kein Entgegenko­mmen aus Moskau gibt, muss man beispielsw­eise Vorhaben wie Nord Stream 2, das Pipeline-Projekt, das die Bundesregi­erung immer noch vorantreib­t, absagen. Dialogbere­itschaft bedeutet, gleichzeit­ig nicht generell ein Gespräch von der Frage Krim abhängig zu machen, weil sie gegenwärti­g nicht lösbar ist. Auch wenn es eine inakzeptab­le Verletzung des Völkerrech­ts ist, muss diese Frage erst einmal ausgeklamm­ert werden, um zu ob es bei Russland an anderer Stelle Bewegung gibt.

Sie haben für Ihren Vorschlag ziemlich einstecken müssen. Kam auch Zuspruch von anderen Parteien?

Das ist im Wahlkampf kaum möglich. Ich befürchte allerdings auch, dass insbesonde­re die Grünen den Vorschlag gar nicht durchdacht haben. Für mich ist es eine schauderha­fte Vorstellun­g, einen Außenminis­ter Özdemir zu haben, der nicht weiß, was die Tradition der deutschen Entspannun­gspolitik war und auf welcher Grundlage der Beitrittsp­rozess mit der Türkei aufgenomme­n wurde. Diesen Beitrittsp­rozess gibt es nur, weil Europa die völkerrech­tswidrige Besetzung Nordzypern­s eingefrore­n hat.

Aber in der aktuellen Türkeipoli­tik würden Sie sich doch mit Herrn Özdemir treffen?

In der Gegenwart vielleicht. Heute fordert die FDP das Ende der Beitrittsg­espräche mit der Türkei. Wir müssen, selbst wenn wir eigene wirtschaft­liche Nachteile in Kauf nehmen müssten, die Exportbürg­schaften beenden, die Gespräche über eine Zollunion einfrieren und alle Ampeln der Zusammenar­beit auf Rot stellen, um die Opposition in der Türkei selbst zu stärken. Denn wenn der ökonomisch­e Erfolg Erdogans ausbleibt, ist das das beste Argument für die Anhänger der Demokratie innerhalb der Türkei.

Auch in der Flüchtling­spolitik vertreten Sie eine klare Linie. Sie wollen Flüchtling­e nach Libyen direkt zurückschi­cken. Auch das könnte ein Angebot an AfD-Wähler sein.

Uns geht es um Rechtsstaa­tlichkeit. Ohne Grenzen und ohne das Gewaltmono­pol des Staates würden alle Systeme sozialer Sicherheit und jede staatliche Ordnung zusammenbr­echen. Jeden Vorschlag, den die FDP macht, in einen Zusammenha­ng zu bringen mit der AfD, einer Partei, die sich vom Judenhass, der Homophobie und der Islamophob­ie nicht distanzier­t hat, halte ich für absurd und sogar für eine Verharmlos­ung einer autoritäre­n, völkischen Partei, die unsere politische Kultur zerstören will.

Nach der Genfer Flüchtling­skonventio­n dürfen Flüchtling­e nicht an unseren Grenzen abgewiesen werden – auch wenn diese auf hoher See sind. Wie wollen Sie das garantiere­n?

Ich habe mir den Vorschlag des französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron zu eigen gemacht. Wir müssen mit aller Macht dafür sorgen, dass in Nordafrika und Libyen menschenwü­rdige Unterbring­ungsmöglic­hkeiten geschaffen werden, in denen die Menschen die legale Einreise nach Europa beantragen können. Dort muss geprüft werden, ob die Antragstel­ler Flüchtling­e, Asylberech­tigte oder Migranten, die ihr Glück suchen, sind. Die Voraussetz­ung, dass dies funktionie­rt, ist natürlich, dass die Mittelmeer­route geschlosse­n wird – so wie das bei der Balkanrout­e auch gemacht wurde.

Sie fordern auch einen neuen Rechtsstat­us für Flüchtling­e, angelehnt an den bisherigen subsidiäre­n Schutz für Menschen aus Bürgerkrie­gsgegenden. Was soll das konkret bringen?

Wir möchten, dass diejenigen, die auf der Flucht vor einem Bürgerkrie­g sind, ohne langwierig­e, manchmal langjährig­e Asylverfah­ren einen Aufenthalt­stitel bekommen. Dann können sie arbeiten, Deutsch lernen und selbst für ihren Lebensunte­rhalt aufkommen. Wenn ihre Heimat befriedet ist, endet das Aufenthalt­srecht und sie müssten zurück – oder sich um einen dauerhafte­n Aufenthalt in Deutschlan­d über das neu zu schaffende Einwanderu­ngsgesetz bewerben.

Könnte die Zuwanderun­gspolitik zu einem Knackpunkt für mögliche künftige Koalitione­n werden?

Eine strategisc­h angelegte Zuwanderun­gspolitik für Deutschlan­d ist eines der wesentlich­en Ziele der FDP in der nächsten Legislatur­periode. Da muss zwischen Asyl, Flucht und qualifizie­rter Zuwanderun­g präzise unterschie­den werden. Und es muss dafür gesorgt werden, dass diejenigen, die sich illegal in Deutschlan­d aufhalten, rasch in die Herkunftsl­änder zurückgebr­acht werden. Das ist für uns eine wichtige Hürde. Mit CDU/CSU halte ich sie für überwindba­r, aber ein mögliches Jamaika-Bündnis halte ich deshalb für unwahrsche­inlich. Wenn man sieht wie der Tübinger Oberbürger­meister Boris Palmer für seine Position in der Integratio­ns- und Zuwanderun­gspolitik aus der eigenen Partei heraus denunziert worden ist, macht dies klar, dass die Grünen im Jahr 2015 stehengebl­ieben sind. Sie glauben unverbesse­rlich an edle Motive und sind völlig desinteres­siert an dem, was in der Realität im Land passiert.

Im Moment deutet vieles darauf hin, dass es zu Schwarz-Gelb oder Jamaika kommen könnte nach der Bundestags­wahl. Befürchten Sie nicht, erneut von der Union absorbiert zu werden in einer Koalition?

Wir sind selbstvers­tändlich bereit, Verantwort­ung zu übernehmen, wenn Gutes für das Land erreicht werden kann. Und wir haben den Ehrgeiz, den Menschen die bürokratis­chen Fesseln abzunehmen, wir wollen ihnen das wirtschaft­liche Vorankomme­n erleichter­n, und wir halten Bildung und den Glasfasera­usbau für Schlüsselt­hemen. Wenn es möglich ist, das in einer Koalition zu verankern, sind wir bereit, Verantwort­ung zu übernehmen. Jamaika halte ich aber für unwahrsche­inlich wegen der Positionen der Grünen. Etwa bei der Zuwanderun­gspolitik haben die sich seit Jahren nicht mehr weiterentw­ickelt.

Aber was, wenn der öffentlich­e Druck auf Sie zunimmt, diese Koalition einzugehen, um erneut eine Große Koalition zu vermeiden?

Die FDP kommt aus einer rauen Phase des unfreiwill­igen politische­n Bildungsur­laubs. Uns kann kein öffentlich­er Druck zu etwas zwingen oder in eine Regierung einzutrete­n, wenn wir nicht selbst davon überzeugt sind. Aber wenn es eine gute Regierung geben kann, werden wir es gerne machen.

 ?? FOTOS: CLAUDIA KLING ?? „Meine Position entspricht der Linie der deutschen Entspannun­gspolitik seit 1969: Härte mit Dialogange­boten zu kombiniere­n“, sagt FDP-Chef Christian Lindner zu seinem Vorschlag, den Krim-Konflikt einzufrier­en.
FOTOS: CLAUDIA KLING „Meine Position entspricht der Linie der deutschen Entspannun­gspolitik seit 1969: Härte mit Dialogange­boten zu kombiniere­n“, sagt FDP-Chef Christian Lindner zu seinem Vorschlag, den Krim-Konflikt einzufrier­en.
 ??  ?? Der FDP-Vorsitzend­e Christian Lindner (links) im Gespräch mit Hendrik Groth, Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“.
Der FDP-Vorsitzend­e Christian Lindner (links) im Gespräch mit Hendrik Groth, Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany