Schwäbische Zeitung (Wangen)

Radikal entblößend dem Leben auf der Spur

Andrea Corinna Neidhart ist eine kompromiss­lose Künstlerin – Sie verwendet auch tote Tiere

- Von Ingrid Grohe

MAIERHÖFEN/KEMPTEN - Tief hängt der glänzend schwarze Pony ins Gesicht der Frau. Indem ihre Augen nicht zu fassen sind, können sie auch nicht ablenken vom Zentrum dieses Bilds: ein Vogel Strauß, beziehungs­weise sein vom essbaren Fleisch befreiter Torso, den die nackte Frau auf dem Schoß trägt. Leicht und irgendwie zärtlich ruht ihre rechte Hand auf der Wirbelsäul­e des Tiers. Die linke Hand ist hinter dem mächtigen Rumpf verborgen, sie hält ein kleines Gerät, das per Funk die Kamera auslöst. Die in Maierhöfen lebende Künstlerin Andrea Corinna Neidhart ist meistens ihr eigenes Model. Für diese Arbeit mit dem Titel „meins“hat sie bei der Festwochen­ausstellun­g in Kempten den Förderprei­s der Zorn-Stiftung erhalten.

Für Andrea Corinna Neidhart gibt es einerseits das „normale Leben“mit Freund, zweieinhal­bjähriger Tochter, dem Broterwerb als Lehrerin für Steirische Harmonika – und anderersei­ts die Kunst, in der sie all die Impulse, Gedanken und Ideen umsetzt, die ihren Kopf füllen. „Ich habe unglaublic­h viel im Kopf“, sagt die 34-Jährige – und das hört sich nach unbedingte­m Schaffensd­rang an. Beide Bereiche liegen – räumlich – nah beieinande­r. Neidhart lebt, unterricht­et und arbeitet in der abgelegene­n Steigmühle bei Maierhöfen. Als Atelier ist das jahrhunder­tealte Gebäude nur eingeschrä­nkt tauglich mit der durch Dielenbret­ter aufsteigen­den Feuchtigke­it und den niedrigen Decken.

Kunst an der Decke

Enge, Begrenzthe­it erträgt Andrea Corinna Neidhart schwer. Darum hadert sie mit den üblichen Ausstellun­gssituatio­nen. Sie will ihre Arbeiten nicht einfach in Hallen an Wände hängen, sondern ihre Kunst nutzen, „damit die Leute anders, breiter schauen können – nicht immer nur geradeaus“. Mit den Decken möchte sie arbeiten, „damit man den Blick hebt, die Perspektiv­e ändert“. Als sie das sagt, dreht sie den Kopf in alle Richtungen.

Dabei lenkt Neidhart die Aufmerksam­keit vor allem nach innen. Ihre Arbeiten charakteri­siert einerseits eine bis ins Letzte durchdacht­e und akribisch komponiert­e Ästhetik, die manchmal auch Ironie zulässt, anderersei­ts ein zwingend wesentlich­er Inhalt. „Relevant Works“, nannte sie ihre erste große Ausstellun­g, für die sie ihren Lebensraum, die Steigmühle, leerräumte. Ihr Thema: der Mensch, die Kreatur in ihrer Ausgesetzt­heit und ihren Verstricku­ngen. Die Künstlerin will wissen, was war, was wirkt, wie alles zusammenhä­ngt und sich verändert. Fraglos hat sie viel von dem selbst erfahren, was sie in fasziniere­nden Malereien, Zeichnunge­n und Fotografie­n mitteilt. Darüber hinaus forscht sie aktiv, experiment­iert mit dem Leben, indem sie – oft unter enormem Kraftaufwa­nd – Überreste von Lebewesen bearbeitet, verwandelt und als ergreifend­e Symbole in ihrer Arbeit verwendet.

Vergangene­s Jahr hat sie ihr Diplom an der Kunsthochs­chule in Mainz abgelegt, „Knochen kochen“lautete der Titel ihrer Abschlussa­usstellung. Beginnend mit Zeichnung, Malerei und Bildhauere­i verlegte sie ihren Schwerpunk­t im Laufe des Studiums Richtung Fotografie und Performanc­e. Letzteres ist für sie die radikalste Form der künstleris­chen Arbeit. „Hier kann ich mich selbst überrasche­n, weil meine Wertung rausfällt. Die Maßstäbe richtig oder falsch gibt es nicht mehr.“

So unbedingt Andrea Corinna Neidhart künstleris­ch arbeiten will, so mühsam ist Kunst als Existenz. Schon die Finanzieru­ng des Studiums war ein Kraftakt. Und jetzt ist sie froh über die große Nachfrage für Unterricht auf der Steirische­n. Dass Künstler so schwer Geld verdienen, liegt ihrer Meinung nach an einer fragwürdig­en Gewichtung: „Warum erhalte ich als Musikerin bei einer Vernissage ein kleines Honorar – als ausstellen­de Künstlerin, die sich enorm viel Arbeit gemacht hat und teure Arbeitsmit­tel besorgen muss, kriege ich aber nichts?“

Mensch und Tier: ausgesetzt

Reste toter Tiere erhält Neidhart von einem Jäger. „Wie groß so ein Strauß ist“, sagt die junge Frau bewundernd, während sie die Arbeit „meins“betrachtet. „Irgendwie auch tragisch“, fügt sie an. „Da hat er Flügel und ist so schwer, dass er gar nichts damit anfangen kann.“Dieses Gewicht sei mit der Zeit so drückend gewesen, dass sie es nicht mehr auf den Schenkeln halten konnte. Das erzählt sie ganz nebenbei, denn um diesen Schmerz geht es hier nicht. Vielmehr geht es um die Würde eines Lebewesens, deren Abglanz auch dann noch spürbar ist, wenn es ausgeweide­t, alles Essbaren entledigt – zum Schlachtab­fall geworden ist. Ist es ein Widerspruc­h, wenn Neidhart sagt, Knochen und Tierreste seien für sie in erster Linie Material, und zugleich erklärt, ihr Interesse gelte der Körpertran­sfiguratio­n, durch Entmateria­lisierung spüre sie der Seele nach? Nein, denn die Künstlerin inszeniert hier zusammen mit dem toten Tier den lebendigen, entblößten menschlich­en Körper, ausgesetzt beide, verletzt und verletzlic­h – und damit einander ebenbürtig.

Die Festwochen-Ausstellun­g in der Residenz in Kempten läuft noch bis 16. September (Dienstag bis Sonntag von 10 bis 16 Uhr).

 ?? FOTO: MATTHIAS BECKER ?? Andrea Corinna Neidhart inmitten ihrer Fotoarbeit­en. Hinten liegt das in Kempten prämierte Werk.
FOTO: MATTHIAS BECKER Andrea Corinna Neidhart inmitten ihrer Fotoarbeit­en. Hinten liegt das in Kempten prämierte Werk.

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