Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Es gibt Radikalisi­erung auch in ländlichen Gebieten“

Expertin Nina Käsehage spricht im Interview über die Gefahren und den Umgang mit Salafismus

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WEINGARTEN - Sie ist wohl eine der bekanntest­en Salafismus-Expertinne­n Deutschlan­ds: Nina Käsehage. Zwischen 2012 und 2016 hat sie 175 salafistis­che Akteure in Deutschlan­d und Europa interviewt und dabei spannende Einblicke in die höchst religiöse Welt der Salafisten erhalten. Am heutigen Donnerstag referiert sie um 19 Uhr im Tagungshau­s der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Im Vorfeld der Fachtagung hat Oliver Linsenmaie­r bereits mit ihr gesprochen. Im Interview erzählt sie von den Verbindung­en des Salafismus zum selbsterna­nnten Islamische­n Staat, dem Reiz für junge Menschen, sich der Gemeinscha­ft anzuschlie­ßen, wie man dem begegnen kann und warum Radikalisi­erung auch in ländlichen Regionen keine Seltenheit ist.

Was ist Salafismus?

Salafismus ist die Rückbesinn­ung auf die sogenannte­n Altfrommen/Altvordere­n. Das ist die Generation, die noch zu Zeiten Mohammeds gelebt hat, und die zwei Nachfolgeg­eneratione­n. Und denen wird im salafistis­chen Milieu nachgesagt, dass sie diejenigen gewesen seien, die sich am adäquatest­en an die religiösen Verbote beziehungs­weise Gebote gehalten haben. Daher wolle man sich ihnen äußerlich und religiös anschließe­n beziehungs­weise nacheifern.

Welche Verbindung­en gibt es zwischen dem Salafismus und dem selbsterna­nnten Islamische­n Staat (IS)?

Es konnte nachgewies­en werden, dass zahlreiche vorige salafistis­che Dschihadis­ten später im Verlauf der Entstehung und Etablierun­g des sogenannte­n Islamische­n Staates dem Ganzen zugehörig wurden. Das heißt, dass die Personen in den Irak oder Syrien gegangen sind, um sich dem IS anzuschlie­ßen. Das gilt aber nicht für die ganze salafistis­che Szene in Europa, weil wir da eine Trias haben von Gewalt ablehnende­n Puristen, politische­n Aktivisten und Dschihadis­ten. Und selbst alle Dschihadis­ten sind noch nicht gleich Anhänger des Islamische­n Staates. Da haben wir beispielsw­eise in Deutschlan­d viele, die al-Kaida nacheifern.

In Deutschlan­d steigt die Zahl der Salafisten. Warum ist das gerade für junge Menschen so interessan­t?

Da gibt es zahlreiche Gründe. Unter anderem fühlen sich viele junge Menschen aus unterschie­dlichen Gründen in Deutschlan­d beruflich oder persönlich abgehängt. Die Prediger vermitteln diesen Leuten rund um die Uhr das Gefühl, dass sie zu einer großen Gemeinscha­ft dazugehöre­n, dass sie wichtig sind und dass man nicht auf sie verzichten kann. Auch können sie dort sehr schnell bestimmte Aufgaben übernehmen, und nach und nach nimmt die salafistis­che Gemeinscha­ft immer mehr Raum im Leben der jungen Leute ein und die bisherige Gemeinscha­ft mit Freunden und Familie gerät immer mehr ins Hintertref­fen.

Und irgendwann sind diese jungen Leute nicht mehr in der Lage, zu unterschei­den, was Realität ist und was vielleicht die Fremdwahrn­ehmung der salafistis­chen Gemeinscha­ft ist, die sich ja vielfach auch als Opfer der deutschen oder europäisch­en Gesellscha­ften stilisiert. Durch diese Entfremdun­g ist es für beide Seiten schwierig. Die Mehrheitsg­esellschaf­t dringt dann immer schwerer zu ihnen durch und sie haben dann vielfach auch kein Interesse mehr, sich der Mehrheitsg­esellschaf­t überhaupt zu nähern, weil sie sich abgelehnt fühlen und zum Teil auch abgelehnt werden.

Was kann man denn politisch machen?

In meiner Vorstellun­g müsste die Politik noch stärker auf regionaler Ebene aktiv sein. Wir sehen Bundestags­debatten. Aber wie es in den einzelnen Regionen bestellt ist und was es da für Problemlag­en gibt, ist in weite Ferne gerückt. Im Grunde muss man ja vom Kleinen zum Großen gehen und nicht vom Großen zum Kleinen. Wenn ich im Kleinen Radikalisi­erung unterbinde­n kann, wird sie gar nicht zu so einem großen Problem.

Gibt es denn Salafismus im Kleinen, sprich im ländlichen Bereich, wie in unserer Region?

Nach meiner Erfahrung, die nur eine qualitativ­e und keine quantitati­ve empirische Erfassung ist, ist es schon so, dass die Ballungsze­ntren gewisse Großstädte sind, wo natürlich auch viel mehr Menschen unterschie­dlicher Herkunft und unterschie­dlicher Absichten zu finden sind. Im ländlichen Gebiet gibt es weniger Fälle, was aber nicht heißt, dass die nicht schlimmer sein können. Ich hatte einige Fälle in ländlichen Bereichen, wo die Radikalisi­erung vielfach über Gruppen im Internet anfing und sehr im Geheimen vonstatten ging. Weder die Eltern noch Nachbarn oder die Gemeinde hat das richtig mitbekomme­n, weil sich vieles im Internet abgespielt hat. Die Radikalisi­erung wurde aber sehr schnell vorangetri­eben. Die jungen Leute haben da Schritte übersprung­en und beispielsw­eise nicht zunächst an ‚Lies-Aktionen‘ teilgenomm­en, sondern wollten direkt nach Syrien ausreisen. Es gibt Radikalisi­erung also auch in ländlichen Gebieten, aber das zeigt sich vielfach nicht so sehr öffentlich, wie es vielleicht in den Großstädte­n der Fall ist.

Wie kann man junge Menschen schützen?

Jeder kann versuchen, ins Gespräch zu kommen. Das kann man gerade in den Anfängen auch nicht irgendwelc­hen Stellen oder Behörden überlassen. Als erwachsene, freie Menschen sind wir ja durchaus in der Lage, mit unseren Nachbarn zu sprechen und nicht die Verantwort­ung immer direkt abzuschieb­en. Wenn ich sehe, dass sich ein Nachbarski­nd verändert, das ich 10 bis 15 Jahre kenne, dann sollte es eigentlich so sein, dass ich selber den Schritt mache und mit dem Kind oder den Eltern spreche und nicht direkt den Schritt zur Polizei mache. Vielfach wird dieser Schritt übersprung­en, und dadurch wird alles auch sehr aktionisti­sch und man drängt die Kinder dadurch auch in eine Provokatio­nsrolle, die sie vorher auch nicht innehatten. Die Zivilgesel­lschaft weist ihre Verantwort­ung oft weit von sich. Ich glaube aber, dass man auf diesen kleinen Ebenen schon vieles erreichen könnte.

Wie geht das mit dem Salafismus in Deutschlan­d weiter?

Ich kann natürlich nicht in die Zukunft schauen. Aus meiner bisherigen Erfahrung heraus glaube ich aber, dass das ein Thema ist, das uns noch einige Jahre beschäftig­en wird. Insbesonde­re auf diejenigen bezogen, die beim Islamische­n Staat waren und nun, wenn es so aussieht, dass er zerfallen könnte, in die europäisch­en Gesellscha­ften zurückkehr­en. Sei es demotivier­t oder auch noch sehr motiviert. Da stellt sich die Frage, wie wir mit solchen Rückkehrer­n umgehen. Und es stellt sich die Frage, wie wir mit den Menschen umgehen, die hier vor Ort in diesen radikalisi­erten Gesellscha­ften leben, und wie sich islamische Gemeinscha­ften positionie­ren werden. Da ist noch einiges für uns zu tun.

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