Merkel siegt und verliert am meisten
Union bricht dramatisch ein – Historisch schwache SPD will in die Opposition – AfD wird drittstärkste Partei
BERLIN - Debakel für die Große Koalition bei der Bundestagswahl. Sowohl CDU und CSU als auch die SPD verloren am Sonntag massiv an Stimmen. Trotz der schweren Verluste kann Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) jedoch voraussichtlich vier weitere Jahre regieren, die Union erhielt mit Abstand die meisten Stimmen. Allerdings muss sich Merkel nach neuen Mehrheiten umsehen. Herausforderer Martin Schulz, dessen SPD auf ein historisches Tief fiel, kündigte noch am Sonntagabend den Gang in die Opposition an. „Mit dem heutigen Abend endet die Zusammenarbeit mit CDU und CSU.“
Profiteur war nach den Hochrechnungen die rechtsgerichtete AfD, die bei ihrem erstmaligen Einzug in den Bundestag Rang drei erobern konnte. Der FDP gelang nach vier Jahren die Rückkehr in den Bundestag. Mit den ebenfalls vertretenen Grünen und Linken ergibt sich erstmals seit den 1950er-Jahren wieder ein Sechs-Fraktionen-Parlament.
Denkbar wäre, neben der von den Sozialdemokraten ausgeschlossenen Großen Koalition – ein bisher im Bund noch nie erprobtes JamaikaBündnis aus CDU/CSU, FDP und Grünen. Freidemokraten und Grüne zeigten sich prinzipiell gesprächsbereit, sahen aber große Hürden.
Nach den Hochrechnungen (ARD 21.45 Uhr/
ZDF 21.45 Uhr) fiel die Union auf ihr schwächstes Ergebnis seit 1949:
32,8 bis 33,0 Prozent (2013: 41,5). Die Union von Siegerin Merkel hat von allen Parteien im Vergleich zu 2013 am meisten Stimmen verloren. Die einstige Volkspartei SPD stürzte nach zwei bereits schwachen Bundestagswahlen auf ein Rekordtief von 20,6 bis 20,7 Prozent (25,7).
Die AfD, 2013 gescheitert, legt mit 12,8 bis 13,2 Prozent stark zu (4,7). Die Grünen verbesserten sich auf 8,9 bis 9,1 Prozent
(8,4). Die Linken verharrten leicht über altem Niveau bei 9,0 bis 9,1 Prozent (8,6). Die seit 2013 nicht mehr im Parlament vertretene FDP überspringt mit 10,4 bis 10,6 Prozent ganz klar die Fünfprozenthürde (4,8).
„Wir hatten uns natürlich ein besseres Ergebnis erhofft“, räumte Angela Merkel am Abend im Konrad-Adenauer-Haus ein. Der Einzug der AfD bedeute eine „außerordentliche Herausforderung“, der sie sich annehmen wolle, sagte die Kanzlerin, „durch das Lösen von Problemen, durch das Aufnehmen der Ängste, durch gute Politik“. Die „strategischen Ziele“seien aber erreicht. Nach zwölf Jahren Regierungsverantwortung sei es „alles andere als sicher“gewesen, stärkste Partei zu werden.
Dennoch verlor die Union massiv, auch im traditionell starken Süden. In Baden-Württemberg verlor die CDU dramatisch. Nach einer SWR-Hochrechnung kam sie auf 33,4 Prozent und büßte damit im Vergleich zu 2013 (45,7) mehr als zwölf Prozent ein. Dies ist das schlechteste Ergebnis der Partei bei einer Bundestagswahl. Ebenso erging es in Bayern der CSU. Laut BR-Hochrechnung kamen die Christsozialen nur noch auf 38,5 Prozent (49,3).
Noch deutlicher wird die Krise der Volksparteien bei der SPD. Nur noch ein gutes Fünftel der Wähler gab den Sozialdemokraten bundesweit die Stimme, in Baden-Württemberg waren es laut Hochrechnung 16,2 Prozent (20,6), in Bayern 15,0 Prozent (20,0).
Freude herrschte bei den Grünen über das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte. „Wir wollen unser Land verändern“, kündigte Spitzenkandidat Cem Özdemir in Berlin vor begeisterten Anhängern an. Nicht vor Ort war Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Er hatte nach der Stimmabgabe in Laiz mit Air Berlin anreisen wollen. Sein Flug wurde jedoch gestrichen, er blieb in Stuttgart. Dort äußerte sich der Chef der grün-schwarzen Landesregierung in Sachen Koalitionsfindung diplomatisch. Man werde „ernsthaft“mit den möglichen Partnern sprechen, die Verhandlungen würden aber „nicht einfach“.
Wie in Ihrem Wahllokal abgestimmt wurde:
MANNHEIM/BERLIN (dpa) - Die Union verdankt ihren mit Verlusten erkauften Sieg bei der Bundestagswahl laut Forschungsgruppe Wahlen vor allem dem Ansehen von Kanzlerin Angela Merkel. Die CDU-Chefin habe in einem ökonomisch starken Deutschland und global fragilen Umfeld Stabilität und Führungsstärke vermittelt, schrieben die Mannheimer Wahlforscher in einer ersten Analyse am Sonntagabend. Der AfD sei es dagegen gelungen, Ängste, Sorgen und Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu nutzen. Sie zieht nun erstmals in den Bundestag ein, und das gleich zweistellig.
Nach Ansicht der Experten war der Wahlkampf von Furcht geprägt. 70 Prozent der Befragten äußerten in einer Umfrage von Infratest dimap für die ARD die Angst, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet. 60 Prozent befürchteten, dass die Kriminalität zunimmt. 38 Prozent hätten die Sorge, dass zu „viele Fremde“nach Deutschland kommen.
Vor allem Männer wählten die AfD. Sie hätten der Partei doppelt so oft die Stimme gegeben wie Frauen. Bei den ostdeutschen Männern ist die AfD sogar stärkste Partei. Nach vorläufigen Zahlen von Infratest dimap profitierte die AfD zudem von den Nichtwählern: Von dieser Gruppe habe sie nach ersten Schätzungen fast 1,2 Millionen Stimmen bekommen. Auch eine Million vormalige CDU-Wähler setzten diesmal ihr Kreuz bei der Partei. Jeweils eine halbe Million Stimmen seien von SPD und Linken gekommen. Als weiteren Grund für das AfD-Abschneiden verwiesen die Wahlexperten auf das „Top-Thema Flüchtlinge“, bei dem sich lediglich 35 Prozent am ehesten von der CDU/CSU vertreten fühlten. 86 Prozent der AfD-Wähler bezweifeln laut Befragung, dass Deutschland die hohe Zahl an Flüchtlingen verkraftet. Unter allen Befragten sind nur 37 Prozent dieser Auffassung.
Obwohl mit den Erfolgen von FDP und AfD der Bundestag zum SechsFraktionen-Parlament geworden ist, bleiben nur zwei Bündnisoptionen: eine weitere Große Koalition und ein Jamaika-Bündnis aus Union, FDP und Grünen. 50 Prozent der Deutschen fänden eine weitere Große Koalition besser, 41 Prozent Jamaika.
73 Prozent stehen hinter Merkel
73 Prozent der Deutschen bescheinigen demnach Merkel gute Arbeit als Kanzlerin. Sie punktete demnach im direkten Vergleich mit SPDHerausforderer Martin Schulz: 57 Prozent wollten nach Zahlen der Forscher Merkel weiter als Regierungschefin sehen – nur jeder Dritte Schulz. Sie gelte als sympathischer und glaubwürdiger, die Wähler trauten ihr zudem mehr Sachverstand zu.
Schulz habe dagegen bei Fragen zur sozialen Gerechtigkeit gepunktet. Dennoch überzeugte das die Wähler nicht: Laut Infratest dimap waren 66 Prozent der Befragten der Ansicht, dass sich Schulz nicht klar genug gegen Merkel positioniert habe. 59 Prozent befanden sogar, dass der SPD-Politiker insgesamt nicht überzeugend gewesen sei.
Der FDP sei diesmal „ohne parlamentarischen Leistungsnachweis eine nie da gewesene Imagekorrektur“gelungen, urteilten die Wahlforscher. Laut Infratest dimap sind 70 Prozent der Befragten der Auffassung, dass die FDP ohne Parteichef Christian Lindner keine Chance auf einen Einzug in den Bundestag gehabt hätte. 42 Prozent sagten, ohne Lindner hätten sie die Liberalen nicht gewählt.