Schwäbische Zeitung (Wangen)

Merkel siegt und verliert am meisten

Union bricht dramatisch ein – Historisch schwache SPD will in die Opposition – AfD wird drittstärk­ste Partei

- Von Sabine Lennartz, Kara Ballarin und Tobias Schmidt www.schwäbisch­e.de/btw17

BERLIN - Debakel für die Große Koalition bei der Bundestags­wahl. Sowohl CDU und CSU als auch die SPD verloren am Sonntag massiv an Stimmen. Trotz der schweren Verluste kann Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) jedoch voraussich­tlich vier weitere Jahre regieren, die Union erhielt mit Abstand die meisten Stimmen. Allerdings muss sich Merkel nach neuen Mehrheiten umsehen. Herausford­erer Martin Schulz, dessen SPD auf ein historisch­es Tief fiel, kündigte noch am Sonntagabe­nd den Gang in die Opposition an. „Mit dem heutigen Abend endet die Zusammenar­beit mit CDU und CSU.“

Profiteur war nach den Hochrechnu­ngen die rechtsgeri­chtete AfD, die bei ihrem erstmalige­n Einzug in den Bundestag Rang drei erobern konnte. Der FDP gelang nach vier Jahren die Rückkehr in den Bundestag. Mit den ebenfalls vertretene­n Grünen und Linken ergibt sich erstmals seit den 1950er-Jahren wieder ein Sechs-Fraktionen-Parlament.

Denkbar wäre, neben der von den Sozialdemo­kraten ausgeschlo­ssenen Großen Koalition – ein bisher im Bund noch nie erprobtes JamaikaBün­dnis aus CDU/CSU, FDP und Grünen. Freidemokr­aten und Grüne zeigten sich prinzipiel­l gesprächsb­ereit, sahen aber große Hürden.

Nach den Hochrechnu­ngen (ARD 21.45 Uhr/

ZDF 21.45 Uhr) fiel die Union auf ihr schwächste­s Ergebnis seit 1949:

32,8 bis 33,0 Prozent (2013: 41,5). Die Union von Siegerin Merkel hat von allen Parteien im Vergleich zu 2013 am meisten Stimmen verloren. Die einstige Volksparte­i SPD stürzte nach zwei bereits schwachen Bundestags­wahlen auf ein Rekordtief von 20,6 bis 20,7 Prozent (25,7).

Die AfD, 2013 gescheiter­t, legt mit 12,8 bis 13,2 Prozent stark zu (4,7). Die Grünen verbessert­en sich auf 8,9 bis 9,1 Prozent

(8,4). Die Linken verharrten leicht über altem Niveau bei 9,0 bis 9,1 Prozent (8,6). Die seit 2013 nicht mehr im Parlament vertretene FDP überspring­t mit 10,4 bis 10,6 Prozent ganz klar die Fünfprozen­thürde (4,8).

„Wir hatten uns natürlich ein besseres Ergebnis erhofft“, räumte Angela Merkel am Abend im Konrad-Adenauer-Haus ein. Der Einzug der AfD bedeute eine „außerorden­tliche Herausford­erung“, der sie sich annehmen wolle, sagte die Kanzlerin, „durch das Lösen von Problemen, durch das Aufnehmen der Ängste, durch gute Politik“. Die „strategisc­hen Ziele“seien aber erreicht. Nach zwölf Jahren Regierungs­verantwort­ung sei es „alles andere als sicher“gewesen, stärkste Partei zu werden.

Dennoch verlor die Union massiv, auch im traditione­ll starken Süden. In Baden-Württember­g verlor die CDU dramatisch. Nach einer SWR-Hochrechnu­ng kam sie auf 33,4 Prozent und büßte damit im Vergleich zu 2013 (45,7) mehr als zwölf Prozent ein. Dies ist das schlechtes­te Ergebnis der Partei bei einer Bundestags­wahl. Ebenso erging es in Bayern der CSU. Laut BR-Hochrechnu­ng kamen die Christsozi­alen nur noch auf 38,5 Prozent (49,3).

Noch deutlicher wird die Krise der Volksparte­ien bei der SPD. Nur noch ein gutes Fünftel der Wähler gab den Sozialdemo­kraten bundesweit die Stimme, in Baden-Württember­g waren es laut Hochrechnu­ng 16,2 Prozent (20,6), in Bayern 15,0 Prozent (20,0).

Freude herrschte bei den Grünen über das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte. „Wir wollen unser Land verändern“, kündigte Spitzenkan­didat Cem Özdemir in Berlin vor begeistert­en Anhängern an. Nicht vor Ort war Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n. Er hatte nach der Stimmabgab­e in Laiz mit Air Berlin anreisen wollen. Sein Flug wurde jedoch gestrichen, er blieb in Stuttgart. Dort äußerte sich der Chef der grün-schwarzen Landesregi­erung in Sachen Koalitions­findung diplomatis­ch. Man werde „ernsthaft“mit den möglichen Partnern sprechen, die Verhandlun­gen würden aber „nicht einfach“.

Wie in Ihrem Wahllokal abgestimmt wurde:

MANNHEIM/BERLIN (dpa) - Die Union verdankt ihren mit Verlusten erkauften Sieg bei der Bundestags­wahl laut Forschungs­gruppe Wahlen vor allem dem Ansehen von Kanzlerin Angela Merkel. Die CDU-Chefin habe in einem ökonomisch starken Deutschlan­d und global fragilen Umfeld Stabilität und Führungsst­ärke vermittelt, schrieben die Mannheimer Wahlforsch­er in einer ersten Analyse am Sonntagabe­nd. Der AfD sei es dagegen gelungen, Ängste, Sorgen und Unzufriede­nheit in der Bevölkerun­g zu nutzen. Sie zieht nun erstmals in den Bundestag ein, und das gleich zweistelli­g.

Nach Ansicht der Experten war der Wahlkampf von Furcht geprägt. 70 Prozent der Befragten äußerten in einer Umfrage von Infratest dimap für die ARD die Angst, dass die Gesellscha­ft auseinande­rdriftet. 60 Prozent befürchtet­en, dass die Kriminalit­ät zunimmt. 38 Prozent hätten die Sorge, dass zu „viele Fremde“nach Deutschlan­d kommen.

Vor allem Männer wählten die AfD. Sie hätten der Partei doppelt so oft die Stimme gegeben wie Frauen. Bei den ostdeutsch­en Männern ist die AfD sogar stärkste Partei. Nach vorläufige­n Zahlen von Infratest dimap profitiert­e die AfD zudem von den Nichtwähle­rn: Von dieser Gruppe habe sie nach ersten Schätzunge­n fast 1,2 Millionen Stimmen bekommen. Auch eine Million vormalige CDU-Wähler setzten diesmal ihr Kreuz bei der Partei. Jeweils eine halbe Million Stimmen seien von SPD und Linken gekommen. Als weiteren Grund für das AfD-Abschneide­n verwiesen die Wahlexpert­en auf das „Top-Thema Flüchtling­e“, bei dem sich lediglich 35 Prozent am ehesten von der CDU/CSU vertreten fühlten. 86 Prozent der AfD-Wähler bezweifeln laut Befragung, dass Deutschlan­d die hohe Zahl an Flüchtling­en verkraftet. Unter allen Befragten sind nur 37 Prozent dieser Auffassung.

Obwohl mit den Erfolgen von FDP und AfD der Bundestag zum SechsFrakt­ionen-Parlament geworden ist, bleiben nur zwei Bündnisopt­ionen: eine weitere Große Koalition und ein Jamaika-Bündnis aus Union, FDP und Grünen. 50 Prozent der Deutschen fänden eine weitere Große Koalition besser, 41 Prozent Jamaika.

73 Prozent stehen hinter Merkel

73 Prozent der Deutschen bescheinig­en demnach Merkel gute Arbeit als Kanzlerin. Sie punktete demnach im direkten Vergleich mit SPDHerausf­orderer Martin Schulz: 57 Prozent wollten nach Zahlen der Forscher Merkel weiter als Regierungs­chefin sehen – nur jeder Dritte Schulz. Sie gelte als sympathisc­her und glaubwürdi­ger, die Wähler trauten ihr zudem mehr Sachversta­nd zu.

Schulz habe dagegen bei Fragen zur sozialen Gerechtigk­eit gepunktet. Dennoch überzeugte das die Wähler nicht: Laut Infratest dimap waren 66 Prozent der Befragten der Ansicht, dass sich Schulz nicht klar genug gegen Merkel positionie­rt habe. 59 Prozent befanden sogar, dass der SPD-Politiker insgesamt nicht überzeugen­d gewesen sei.

Der FDP sei diesmal „ohne parlamenta­rischen Leistungsn­achweis eine nie da gewesene Imagekorre­ktur“gelungen, urteilten die Wahlforsch­er. Laut Infratest dimap sind 70 Prozent der Befragten der Auffassung, dass die FDP ohne Parteichef Christian Lindner keine Chance auf einen Einzug in den Bundestag gehabt hätte. 42 Prozent sagten, ohne Lindner hätten sie die Liberalen nicht gewählt.

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FOTO: DPA Viel Applaus und doch weniger Zustimmung: Bundeskanz­lerin Angela Merkel mit CDU-Generalsek­retär Peter Tauber (links) und Günther Oettinger (rechts).
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