Schwäbische Zeitung (Wangen)

Grüne warnen vor roten Linien

Chef Özdemir möchte Jamaika-Sondierung bald starten

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BERLIN (sal/kab) - GrünenChef Cem Özdemir (Foto: dpa) warnt vor den Sondierung­sverhandlu­ngen über ein Jamaika-Bündnis davor, zu viele rote Linien zu ziehen. Die Gespräche beginnen nächste Woche in Berlin, und es sei „Zeit, sie zu beginnen“, so Özdemir. Der von der Union im Vorfeld präsentier­te Kompromiss sei „die Position der Union, nicht die einer möglicherw­eise zu bildenden Koalition“. Die Union will den Familienna­chzug für Flüchtling­e aussetzen. Özdemir sagt, in der Frage des Familienna­chzugs hätten die Grünen die Kirchen an ihrer Seite. „Da geht es um die Kernfamili­en aus Vater, Mutter, Kind. Das ist eine Frage der Humanität, aber auch von gelingende­r Integratio­n“, so Özdemir zur „Schwäbisch­en Zeitung“.

BERLIN - Grünen-Chef Cem Özdemir geht die Sondierung­sverhandlu­ngen für Jamaika gelassen an. Er sieht Chancen für einen besseren Klimaschut­z und für eine gute Europapoli­tik, wenn Jamaika gelingt. Mit Cem Özdemir sprachen Kara Ballarin und Sabine Lennartz.

Wie geht es Ihnen nach der anstrengen­den Wahlkampfz­eit?

Ich mag es, draußen zu sein, mit Leuten zu reden, einen Saal zu gewinnen. Für mich hätte der Wahlkampf auch noch weitergehe­n können. Aber ich will mich nicht beklagen, wenn ich jetzt mehr in Sitzungen bin. Das ist ja Folge unseres Erfolgs bei den Wahlen.

Sie haben den Unions-Kompromiss zur Zuwanderun­g deutlich sanfter kritisiert als Ihre Co-Chefin Simone Peter. Wollen Sie keinen Weg verbauen?

Keiner – auch nicht die FDP oder die Union – muss jetzt Schnappatm­ung bekommen, weil sich die Positionen unterschei­den. Denn klar ist doch: Das ist die Position der Union, nicht die einer möglicherw­eise zu bildenden Koalition. Es ist jetzt wirklich an der Zeit, mit den Sondierung­en zu beginnen.

Toni Hofreiter und Jürgen Trittin haben indirekt beim Familienna­chzug eine rote Linie für Sondierung­en genannt. Wie sehen Sie es?

Es ist keine Überraschu­ng, dass wir Grünen uns für einen klar geregelten Familienna­chzug einsetzen. Da haben wir die Kirchen an unserer Seite. Da geht es um die Kernfamili­e aus Vater, Mutter, Kind. Das ist eine Frage der Humanität, aber auch von gelingende­r Integratio­n. Wichtig ist aber auch: Wir Grüne kämpfen schon lange für ein Einwanderu­ngsgesetz, die FDP fordert es bereits, die Union räumt ihr Njet ab - das ist eine Grundlage für Verhandlun­gen.

Wenn Ihnen die Union beim Einwanderu­ngsgesetz entgegenko­mmt, geben Sie dann bei den sicheren Herkunftss­taaten der Union nach?

Das Grundprobl­em wäre damit nicht gelöst. Wir haben Leute im Land, die einen Abschiebeb­escheid haben, aber nicht abgeschobe­n werden können, weil ein CDU/CSU-geführtes Haus es nicht geschafft hat, Rücknahmea­bkommen zu verhandeln. Ich bin dafür, den Maghreb-Staaten ein Angebot zu unterbreit­en, das sie nicht ablehnen können, bestehend aus Visa-Erleichter­ungen, Stipendien und Entwicklun­gshilfe.

Es wird viel über rote Linien geredet, wenig über Chancen. Was könnte am Ende für Sie ein Gewinn der Verhandlun­gen sein?

Zentral ist für uns der Klimaschut­z. Das ist keine grüne Spielwiese, sondern muss eine Querschnit­tsaufgabe für alle Ministerie­n werden. Es geht um den Zusammenha­lt in unserer Gesellscha­ft – wie wir die Menschen, die sich abgehängt fühlen, mitnehmen. Es kann doch nicht sein, dass wir beim Glasfasera­usbau, bei den Schulen so zurücklieg­en. Es darf keine benachteil­igten Regionen geben. Insbesonde­re im ländlichen Raum gibt es da viel zu tun. Wir müssen uns um die Leute kümmern, die sich die Miete nicht leisten können oder Menschen, die von ihrem Einkommen nicht leben können. 40 Prozent der Alleinerzi­ehenden sind auf Hartz IV angewiesen – da gibt es viel zu tun. Deutschlan­d muss jetzt aber auch die Chance nutzen, die die ausgestrec­kte Hand von Präsident Macron bedeutet und Europa voranbring­en.

Nehmen Sie ein bisschen die bisherige Rolle der Sozialdemo­kraten mit ein und kümmern sich ums Soziale?

Ich glaube schon, dass wir Grünen uns darum kümmern müssen. Gerne zusammen mit der CSU, wenn die das S in ihrem Namen wiederentd­eckt. Die Menschen müssen merken, dass sich die Arbeit einer möglichen neuen Koalition auf ihr eigenes Leben positiv auswirkt.

Schaffen Sie die Sondierung­en bis Weihnachte­n?

Ich würde keine Wetten annehmen. Wir haben ja Druck gemacht, dass sich die Union berappelt und wir endlich mit den Sondierung­en anfangen können. Aber Gründlichk­eit geht vor Schnelligk­eit. Unser Land braucht eine verlässlic­he Regierung für die nächsten vier Jahre.

Gerade hat in der Türkei der Prozess gegen die Ulmer Journalist­in und Übersetzer­in Mesale Tolu begonnen, Welche Botschaft möchten Sie ihr senden?

Ich wünsche mir, dass Mesale Tolu weiß: Wir werden alles tun, dass sie und ihr Kind auf freien Fuß kommen. Denn sie hat sich nichts zuschulden kommen lassen außer eine abweichend­e Meinung zu haben. Dafür sollte niemand in einem türkischen Gefängnis sitzen. Das gleiche gilt natürlich für Peter Steudtner, für Deniz Yücel und alle anderen deutschen Geiseln, die in der Türkei im Gefängnis sitzen – und auch für Türken wie meinen Kollegen Selahattin Demirtas von der HDP, der sich immer klar gegen Gewalt ausgesproc­hen hat oder die Journalist­en der Cumhuryiet. Eine Normalisie­rung des Verhältnis­ses zur Türkei kann es nicht geben, ohne dass die deutschen Geiseln in Freiheit kommen.

Der türkische Außenminis­ter Cavusoglu hat angekündig­t, das Verhältnis zu Deutschlan­d verbessern zu wollen. Ist das eine Hoffnung für Tolu?

Ich begrüße die Entspannun­gssignale. Sie sind vor dem Hintergrun­d zu sehen, dass Berlin nun endlich begonnen hat, gegenüber der Türkei entschloss­ener aufzutrete­n, sei es bei den Hermesbürg­schaften, dem Zollhandel­sabkommen oder dem Tourismus. Das verschärft die wirtschaft­lichen Turbulenze­n und tut Erdogan weh. Er versteht nur die harte Sprache des Geldes und die müssen wir offenbar sprechen, um Mesale Tolu und den anderen zu helfen.

Der türkische Außenminis­ter hat versichert, man wolle auch mit einem möglichen Außenminis­ter Özdemir gut zusammenar­beiten. Was sagen Sie?

Ich habe noch nie gesagt, dass ich dieses oder jenes Ressort möchte. Erst kommen die Sondierung­en, wenn sie positiv verlaufen die Koalitions­gespräche und ganz zum Schluss gilt Erwin Teufels Satz: „Das Amt kommt zum Manne“oder zur Frau, wie ich als Grüner immer ergänze.

Haben Sie sich dennoch schon einmal mit dem Gedanken auseinande­rgesetzt, was es für Sie und Ihre Familie bedeuten würde, wenn Sie Außenminis­ter würden?

Für meine Familie hat mein Leben als Politiker bereits Konsequenz­en: Unsere Wohnung wurde unter Sicherheit­saspekten unter die Lupe genommen und ich habe bei öffentlich­en Veranstalt­ungen Personensc­hutz. Meine Frau und ich achten so gut es geht darauf, dass unsere Kinder trotzdem möglichst normal aufwachsen. Ich mute ihnen da viel zu.

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FOTO: DPA Cem Özdemir

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