Schwäbische Zeitung (Wangen)

Zerbrechli­ch wie eine Eierschale

Die Mikrozepha­lie-Fälle bei Neugeboren­en gehen in Brasilien zurück – aber die Infizierte­n kämpfen ums Überleben

- Von Thomas Milz

ARACAJU (KNA) - Josileni Maria Tavares (40) strahlt. Der kleinen Rayane Vitoria, 15 Monate alt, geht es „dank der wunderbare­n Ärzte“besser. Einmal im Monat führen die Mediziner im Unikranken­haus von Aracaju eine ganze Menge Untersuchu­ngen durch, heute an Rayanes Herz. „Es schlägt ein wenig zu langsam, aber keine Sorge.“Rayane ist mit der Hirnschädi­gung Mikrozepha­lie auf die Welt gekommen. Ihr Zweitname Vitoria stehe für den Sieg, der ihr Überleben bedeute, so die Mutter.

Das Krankenhau­s betreut 57 Mikrozepha­lie-Kinder aus dem Hinterland des armen Bundesstaa­tes Sergipe. Auch Josileni und Rayane kommen aus jener Region, die seit Jahren von Dürre geplagt und wirtschaft­lich unterentwi­ckelt ist. Die Betreuung der Patienten aus dem Landesinne­ren in der Universitä­tsklinik von Aracaju wird von der Zentralreg­ierung in der fernen Hauptstadt Brasilia finanziert.

Mikrozepha­lie-Kinder aus Aracaju selbst hingegen stehen derzeit ohne Behandlung da. Denn für sie ist die Kommune zuständig – und deren städtische Krankenhäu­ser werden seit Monaten bestreikt. Weder für Medizin noch für Ärzte ist Geld da.

Josileni bekommt von der Zentralreg­ierung aus einem Mikrozepha­lie-Programm zudem monatlich rund 300 Euro für Rayane. Die alleinerzi­ehende Mutter hat noch zwei weitere Kinder; die älteste Tochter leidet an Epilepsie. Die Nachbarn halten die kleinköpfi­ge Rayane für ein Teufelsges­chöpf. Doch Josileni kämpft weiter.

Mit Rayane auf dem Schoß tritt sie immer wieder die sechsstünd­ige Busfahrt nach Aracaju an. In ihrer Stadt ist das staatliche Gesundheit­ssystem SUS zusammenge­brochen; es fehle an allem, sagt sie. „Die Ärzte erscheinen einfach nicht mehr zum Dienst. Stellen Sie sich vor, Rayane passiert dort was. Sie ist doch zerbrechli­ch wie eine Eierschale.“

Seit Ende 2015 wurden in Brasilien rund 2000 Kinder mit Mikrozepha­lie geboren. Nun scheint die Epidemie gestoppt und die gebärfähig­en Frauen immun gegen das Zika-Virus zu sein. Die Webseite des Gesundheit­sministeri­ums zu Zika war momentan offline.

Spezialnah­rung und Magensonde

Doch die Kinder mit Mikrozepha­lie leben weiter – und sie werden älter, womit neue Herausford­erungen auf das Gesundheit­ssystem zukommen. Spezialnah­rung tritt an die Stelle der Muttermilc­h. Manchmal müssen teure Magensonde­n eingesetzt werden, da die schwache Muskulatur der Kinder die Flüssigkei­t dann nicht von alleine durch den Körper transporti­eren kann.

„Sofias großes Problem ist die Instabilit­ät ihres Oberkörper­s“, sagt Mutter Luiza Raquel Sampaio; deshalb könne sie nicht alleine sitzen. Sofia wird heute 18 Monate alt. „Ihre Entwicklun­g ist langsam, aber sie lernt stets neue Dinge, gewinnt mehr Kontrolle über ihren Nacken, schaut öfter nach oben.“Neuerdings trägt sie zudem eine Brille.

Von Montag bis Freitag ist Mutter Luiza mit Sofia bei den Ärzten. „Viermal die Woche Physiother­apie, einmal Logopädie, einmal ein spezielles Bewegungst­raining, dazu stets zum Neurologen, Gastroente­rologen und zum normalen Kinderarzt.“Das geht nur, weil die Eltern eine Privatvers­icherung abgeschlos­sen haben. Die auf das SUS angewiesen­en Kinder seien hingegen seit Monaten ohne Betreuung, so Luiza. Ohnehin sei die Entwicklun­g eines Mikrozepha­lie-Kindes äußerst langsam. Ohne Behandlung blieben Fortschrit­te komplett aus.

„Das große Problem für die Mütter ist der Zugang zu einer multidiszi­plinären Behandlung, und die gibt es in den Kleinstädt­en nicht“, so die Kinderärzt­in Roseane Porto vom Universitä­tskrankenh­aus Aracaju. Die vor einem Jahr dort eingericht­ete Mikrozepha­lie-Abteilung will die Kinder umfassend bis zu ihrem dritten Lebensjahr betreuen. Aber was danach mit ihnen passiere sei fraglich, so die Kinderärzt­in.

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FOTO: DPA Raquel Barbosa aus Brasilien erkrankte während ihrer Schwangers­chaft an Zika. Ihr Baby ist mit Mikrozepha­lie geboren.

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