Schwäbische Zeitung (Wangen)

Als die Welt sich neu ordnete

György Dragománs fulminante­r Roman „Der Scheiterha­ufen“am Schauspiel Stuttgart

- Von Jürgen Berger

STUTTGART - György Dragomán zählt zu den wortmächti­gsten Autoren der Gegenwart. Vor zwei Jahren schrieb der 1973 im rumänische­n Siebenbürg­en geborene Ungar mit „Der Scheiterha­ufen“einen Roman über ein Rumänien nach dem Sturz des Diktators Ceausescu. Stuttgarts Schauspiel-Intendant Armin Petras hat eine Bühnenfass­ung erstellt und sie mit unterschie­dlichen Schauspiel­erinnen am rumänische­n Nationalth­eater Radu Stanca Sibiu, dem Vígszínház Theater in Budapest und am Staatsscha­uspiel Dresden inszeniert. Nun gab es die Stuttgarte­r Premiere.

Mehrfach stigmatisi­ert

Kurz nach der rumänische­n Revolution im Dezember 1989 weiß Emma nicht so recht, ob sie glauben soll, dass ihre Eltern bei einem Autounfall gestorben sind. Es kommt aber noch schlimmer. Plötzlich ist da diese ältere Frau, die behauptet, sie sei die Großmutter der 13-Jährigen. Für das Mädchen ist das eine Zumutung, die Frau aber, die sie vorher noch nie gesehen hat, ist wohl tatsächlic­h die Mutter ihrer Mutter. Emma vertraut ihr, verlässt das Internat und erlebt in einer Stadt in Siebenbürg­en, wie das ist, mehrfach stigmatisi­ert zu sein. Emma stammt aus einer jüdischen Familie. Gleichzeit­ig ist da aber auch die Frage, welche Rolle der Großvater im System Ceausescu gespielt hat.

Die einen beschimpfe­n sie als „Judenbalg“, die anderen munkeln, Emmas Großvater sei ein Spitzel gewesen. Würde das stimmen, könnte man verstehen, dass sie in der neuen Schule solche Probleme hat. Krisztina zum Beispiel will nicht neben ihr sitzen. Schließlic­h hatte die eine Zwillingss­chwester, die während des Volksaufst­ands in Timisoara, der größten Stadt im Banat, getötet wurde. Das hatte angeblich Emmas Großvater mit zu verantwort­en.

Aber war es tatsächlic­h so? Und wenn ja, was kann Emma dafür? György Dragomans „Der Scheiterha­ufen“hat dunkel magische Passagen, aber auch ganz helle, gespeist von der Lebenslust der Protagonis­tin, ihrem Willen zur Freiheit und Streben nach Anerkennun­g. Hat die Großmutter ihr endlich einen eng sitzenden Badeanzug gekauft, steht sie im Freibad sofort auf dem Zehnmeterb­rett. Dann springt sie und wird von Péter gerettet, dem Jungen mit dem Falken, der eine Anstellung als Bademeiste­r gefunden hat und, welch ein Glück, ausgerechn­et an Emma seine erste Mund-zu-Mund-Beatmung durchführe­n darf.

Dass Armin Petras ausgerechn­et diesen Roman dramatisie­ren wollte, dürfte daran liegen, dass „Der Scheiterha­ufen“große Literatur über jene Zeit in der jüngeren europäisch­en Geschichte ist, in der Diktaturen abdankten und die Welt sich neu ordnete. György Dragomán umrundet aber auch jene Phase im Leben heranwachs­ender Jugendlich­er, für die Petras sich schon immer ganz besonders interessie­rte: Die Pubertät, in deren Zwielicht man die Veränderun­gen des eigenen Körpers erstaunt bis angeekelt zur Kenntnis nimmt, die eigene kleine Welt moralisch ordnet, erste Schritte ins Erwachsene­nleben wagt und eines auf jeden Fall will: küssen.

Um das in möglichst vielen Nuancen darstellen zu können, hat Armin Petras sich von Olaf Altman ein nüchternes Bühnenbild bauen lassen: Ein großes Viereck, das aussieht, als sei auf der Spielfläch­e ein flaches Schwimmbec­ken gelandet, in dem Kinder sich austoben können. Dummerweis­e ist das Schwimmbec­ken aber mit Eiswürfeln gefüllt und lädt so gar nicht zum Plantschen ein. Umso überrasche­nder, mit welchem Elan Viktoria Miknevich und Lea Ruckpaul sich ins Eisgeviert stürzen und abwechseln­d Emma, die Großmutter und all die anderen Figuren spielen, die in der Bühnenfass­ung des Romans vorkommen.

Die Großmutter gerät etwas stereotyp und ist eine gebeugte Alte, angesiedel­t zwischen smarter Hexe und geliebter Ersatzmutt­er. Spielen Viktoria Miknevich und Lea Ruckpaul in schnellem Rollenwech­sel die junge Emma, zeigen sie dagegen eine große Bandbreite der Atmosphäre­n eines jungen Frauenlebe­ns: diese immense Verunsiche­rung, wie man auf andere wirkt, dann ein plötzliche­s Aufbegehre­n, gefolgt von träumerisc­hen Passagen und kurz darauf Lebenszwei­fel, dann wieder überschäum­ende Lebenslust.

Am Ende passen drei Dinge prima zusammen: Ein hervorrage­nder Text, zwei fulminante Schauspiel­erinnen und eine Regie, die mit minimalem Aufwand einen großen Erzählboge­n schlägt. Im Programmhe­ft gibt Armin Petras zu Protokoll, er hoffe, zum Ende der Spielzeit alle Schauspiel­erinnen aus Sibiu, Budapest und Stuttgart auf der Bühne versammeln zu können. Gäbe es eine Version in drei Sprachen und mit sechs Darsteller­innen, wäre das sicherlich ein glückliche­r Abschluss seiner Zeit als Intendant des Schauspiel Stuttgart.

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FOTO: THOMAS AURIN Sie tauschen permanent die Rollen: Viktoria Miknevich und Lea Ruckpaul als Emma.

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