Hass auf den Todespfleger „ist verflogen“
Das Morden von Stephan L. beschäftigt ehemalige Kollegen in Sonthofen bis heute
SONTHOFEN - Jetzt ist es also Niels Högel in Oldenburg. Mit 90 nachgewiesenen Fällen gilt er seit Kurzem als schlimmster Serienmörder der Nachkriegsgeschichte und nicht mehr „Todespfleger“Stephan L., der wegen der Tötung von 28 Menschen verurteilt wurde. Doch das ändert nichts. Jedes Mal, wenn irgendwo jemand einem pflegebedürftigen Menschen gewaltsam das Leben nimmt, wird bei den ehemaligen Kollegen des „Todespflegers“im Sonthofener Krankenhaus die Erinnerung wach. Die Frage, wie es ihnen dann geht, könnte man sich sparen. „Bescheiden“, ist die ehrliche Antwort einer ehemaligen Kollegin. Die Krankenschwester und eine frühere Vorgesetzte schildern im Gespräch mit unserer Zeitung, wie ihnen auf der Station der Weg zurück in die Normalität gelang.
Die Fakten sprechen von einer Erfolgsgeschichte, die der Klinikstandort Sonthofen seit 2004 erfahren hat. Als damals die Mordserie bekannt wurde, war die Krankenhauslandschaft im Oberallgäu im Umbruch. Die Sorge vor Standortschließungen trieb Mitarbeiter und Patienten um. Als die Klinik mit dem, was in den Jahren 2003 und 2004 ein einzelner Krimineller angerichtet hat, in die Schlagzeilen geriet, befürchteten viele Verantwortliche, dass die Patienten mit den Füßen gegen Sonthofen abstimmen würden. Das Gegenteil ist Realität geworden. Die Geschäftsführung verweist darauf, dass der Klinikstandort Sonthofen heute zu den größten für Älterenmedizin in Bayern zählt. „Wir sind den Mitarbeitern außerordentlich dankbar für die Krisenbewältigung sowie ihren jahrelangen Einsatz“, betont Andreas Ruland, Geschäftsführer des Klinikverbunds Kempten-Oberallgäu. Auch bei den Patienten der Station, auf der Stephan L. wehrlose Menschen tötete, sei die Mordserie kein Thema mehr, sagt seine frühere Kollegin.
Sie und die anderen Beschäftigten werden aber nie vergessen, wie mit der Benachrichtigung der Polizei für sie die Welt zusammenbrach. „Das wird immer da sein. Ein Leben lang“, sagt die ehemalige Vorgesetzte. Die ersten drei Tage nach dem Bekanntwerden der Taten habe sie kaum geschlafen und nur funktioniert. Auch die frühere Kollegin des Täters erinnert sich: „Wir waren fassungslos, dass jemand überhaupt auf so einen Gedanken kommen kann.“Dass jemand, der diesen Beruf gelernt hat, 28 Patienten getötet hat. Wie Stephan L. als Kollege war? „Im Nachhinein kann man viel reininterpretieren“, sagt die Ex- Kollegin. Was bleibt, ist die Erinnerung daran, mit dem Mörder allein Nachtschicht gehabt zu haben und die Frage: „Was wäre passiert, wenn ich ihn gestört hätte?“
Er sagt: „Aus Mitleid“
Fest steht: „Wir haben Medikamente an Stellen gefunden, an denen wir sie nicht hinlegen.“Die Kollegen verdächtigten den Krankenpfleger, gestohlen zu haben. In der Vernehmung durch die Polizei gab er bald zu, Patienten betäubt und dann zu Tode gespritzt zu haben. Aus Mitleid, sagte er. Aus emotionaler Überforderung, urteilte später das Kemptener Landgericht. Stephan L. zerstörte in der Sonthofener Klinik Leben – und das Vertrauen von Patienten und Angehörigen in die Institution Krankenhaus. Bei jeder Spritze, bei jeder Tablette und bei jeder anderen Handlung spürten die Pfleger und Ärzte anfangs Misstrauen. Auch das Vertrauen untereinander sei „angeknackst gewesen“, erinnert sich die Vorgesetzte. „Wir haben alles hinterfragt.“
Die vielen Gespräche mit dem Kriseninterventionsteam, der Zusammenhalt im Pflegeteam und der Rückhalt der Ärzteschaft und der Geschäftsführung hätten bewirkt, dass es weiter ging, erinnert sich die Kollegin. Jeder der 18 Menschen, die in der Pflege mit Stephan L. zusammen arbeiteten, gehe anders mit dem Trauma um. Keiner habe den Beruf aufgegeben. Was auf der Station von Stephan L. übrig bleibt? „Wir schauen genauer hin“, sagt sie. Selbst der kleinsten Unregelmäßigkeit bei den Medikamenten werde nachgegangen. Auch die Apotheker fragten genau nach. „Ich finde das gut so“, sagt die Krankenschwester. Die Ex-Kollegin fügt an: „Der Hass ist verflogen.“Die Verhandlung und Verurteilung von Stephan L. hätten geholfen, Hass zu überwinden. „Ich weiß zu 100 Prozent, dass er so etwas nie wieder tun kann.“Das lasse sie ruhiger schlafen.