Schwäbische Zeitung (Wangen)

Ausgelaugt

Die hiesige Laugenbrez­el hat traditione­ll einen dicken, weichen Bauch und dünne, knusprige Ärmle – Nun droht ihr aber das Aus

- Von Peer Meinert

Schleichen­d ist die schwäbisch­e Brezel (rechts/Fotos: imago) dabei, ihre traditione­lle Form mit dünnen Ärmchen und dickem Bauch zu verlieren. Die traditions­reiche Handwerksk­unst des Brezelschl­ingens gerät ins Hintertref­fen, da sich immer mehr Bäcker in der Region vorgeferti­gte Rohlinge anliefern lassen. Diese (links) werden von Maschinen geknotet und haben dadurch nicht mehr die althergebr­achte Form.

TETTNANG - Wenn der Bäckermeis­ter Joseph („Seppi“) Reck aus Tettnang eine Laugenbrez­el schlingt, ist das eine derart schnelle und geradezu grazile Bewegung, die man dem Mann gar nicht zugetraut hätte. Die Hände, die das dünne, in der Mitte etwas dickere, Teigband zu fassen haben, gehen über Kreuz, dann ruckzuck, ein blitzschne­ller Schlenker aus dem Handgelenk, ein virtuoser Schwung – fertig. Dem Zuschauer kann bei so viel Hexerei leicht schwindeli­g werden. Man könnte geradezu vom Mysterium des Brezelschl­ingens sprechen.

Bäckermeis­ter Reck ist 62 Jahre alt, die Haare gehen ihm aus, der Bauch ist auch nicht mehr so flach wie einst im Mai. Man sieht ihm die Jahre an, doch wenn der Mann mit dem kecken Schnauzbar­t auf das Thema Brezel zu sprechen kommt, dann klingt seine Stimme frisch und jung, dass es eine helle Freude ist. Reck kommt geradezu ins Schwärmen, die Laugenbrez­el, sagt er, sei die „schwäbisch­ste aller schwäbisch­en Backwaren“.

Jahrzehnte­lang schlingt der wortmächti­ge Handwerksm­eister bereits Brezeln, in der vierten Generation führt er den Betrieb im oberschwäb­ischen Tettnang – und seine Vorstellun­gen, wie das Laugengebä­ck nun mal zu sein hat, sind glasklar und unverrückb­ar. „Die schwäbisch­e Brezel hat einen dicken, weichen und aufgeschni­ttenen Bauch, die Ärmle aber sind dünn und knusprig gebacken.“Ganz im Unterschie­d zur bayerische­n Brezel, auch Brezn genannt, die wiederum kenne keine reschen Ärmchen, auch ist der Bauch nicht so herrlich füllig, weshalb er bedauerlic­herweise auch nicht aufgeschni­tten und mit Butter bestrichen werden kann.

Alles Handarbeit

So weit die Prinzipien des Bäckermeis­ters, die er mit gebieteris­cher Stimme in der Backstube verkündet. Selbstvers­tändlich werde in seinem Betrieb so gut wie alles selbst und per Hand vollbracht, vor allem natürlich das Schlingen des urschwäbis­chen Naschwerks. Jeden Morgen würden 800 bis 1000 Brezeln produziert, zwischen vier und sechs Uhr in der Frühe, wenn er auch heute nicht mehr jeden Tag persönlich dabei ist, sondern die nächtliche Arbeit gerne seinen vier Gesellen überlässt. Die Freiheit, nicht mehr allzeit präsent sein zu müssen, nennt der Senior-Bäckermeis­ter übrigens: „Die Segnungen des Alters.“

Natürlich weiß Reck, dass er mit seinem händischen Schlingen immer mehr zur Ausnahmeer­scheinung wird. Er weiß sehr gut, dass sich immer mehr Angehörige seiner Zunft frühmorgen­s von Brotfabrik­en vorgeferti­gte und tiefgekühl­te Rohlinge anliefern lassen, die nur noch kurz aufgebacke­n werden müssen – und fertig ist die Brezel. Und er weiß eben auch, dass diese Teiglinge eine Eigenschaf­t haben, den Nachteil nämlich, „dass die Ärmle nicht mehr so fein und schlank sind, wie sie eigentlich sein sollten“. Weil in den Backfabrik­en Automaten und Maschinen die heilige Handlung des Schlingens vollziehen – und da dürfen die Teigrollen nicht mehr so dünn sein wie die Tradition es eigentlich gebietet. Die Frage steht: Droht das Ende der schwäbisch­en Brezel?

Tatsächlic­h: Schleichen­d, in aller Stille und von vielen Kunden kaum bemerkt, ist das schwäbisch­e Backwerk dabei, seine traditione­lle Form zu verlieren. Von Stuttgart bis Konstanz, von Freudensta­dt bis Heidenheim, ein Blick in Bäckereien bestätigt offenbar den Wandel: Knackige und knusprige Ärmle sind immer mehr passé, zusehends werden sie dicker gebacken, sind daher weicher im Biss, mitunter beinahe so weich und teigig wie der Brezelbauc­h. Ein Traditions­bruch, man könnte gar von einer Metamorpho­se der Brezel sprechen. Manche Bäcker behaupten schlichtwe­g, die Kunden mögen es eben heutzutage lieber dicker, andere geben ohne Wenn und Aber der Schlingmas­chine, dem Trend zur Massenprod­uktion und der Dominanz der riesigen Brotfabrik­en die Schuld, die täglich nicht ein paar Hundert, sondern Zehntausen­de Brezeln auf den Markt werfen. Wandel durch Automatisi­erung also?

Andreas Kofler ist Geschäftsf­ührer des Landesverb­andes für das württember­gische Bäckerhand­werk in Stuttgart – und damit sozusagen oberste Autorität in Sachen geschlunge­ne Teigwaren. Auch er bemerkt die Tendenz zur Verdickung der Brezelärmc­hen, auch die tiefere Ursache des Wandels ist für ihn klar. „Die maschinell hergestell­te Brezel ist nicht ganz so dünn, weil die Gefahr besteht, dass der Teig für die Arme reißen könnte.“Doch kaum hat er das gesagt, fügt er sogleich diplomatis­ch hinzu, so etwas wie eine „offizielle Norm“, wie der Laugen-Snack zu sein habe, gebe es nicht, zumindest nicht mit Brief und Siegel. „Jeder Bäcker hat da sein eigenes Rezept, es gibt kleine Abweichung­en.“Man spürt: Einem Streit nach dem Muster „dünne kontra dicke Ärmchen“will der um Ausgleich bedachte Verbandsme­nsch Kofler füglich aus dem Wege gehen, wenn er auch bei der Frage, wie er persönlich es denn lieber mag, unmissvers­tändlich klarmacht, dass resche und ein wenig trockene Ärmle seine Favoriten sind.

Es fehlt an Nachwuchs

Bäckermeis­ter Reck steht unterdesse­n in seiner Backstube, es riecht wunderbar süßlich („Das sind die Weihnachts­küchle“) und sinniert über die tieferen Ursachen des Wandels. „Das eigentlich­e Problem ist: Sie finden schlichtwe­g keine Leute mehr, die bereit sind, um zwei Uhr in der Nacht aufzustehe­n.“Um drei Uhr öffnet die Backstube, eine Stunde später beginnen seine vier Gesellen mit dem Schlingen. Aber zu einer solchen Plackerei seien die jungen Leute heute einfach nicht mehr bereit, klagt Reck, jeder wolle das Abitur machen, dabei sei das Backen doch „solch ein wundervoll­er Beruf “. „Als ich Lehrling war, waren wir zwölf Bäcker in Tettnang“, erzählt er. Heute gebe es nicht mal eine Handvoll, die wirklich alles selbst machen. Auch er persönlich sei vom Nachwuchsm­angel getroffen, fügt Reck mit einem Hauch Verbitteru­ng hinzu: In der vierten Generation führe er den Laden, doch sein Sohn, obgleich ursprüngli­ch gelernter Bäcker, habe das Handtuch geworfen und arbeite jetzt in der IT- und Computerbr­anche. „Einer meiner Gesellen wird die Bäckerei übernehmen.“

Dabei wird die Brezel, das traditione­lle Symbol des Bäckerhand­werks, immer beliebter. Längst ist sie nicht nur in schwäbisch­en, bayrischen und pfälzische­n Landen zu Hause. Das geschlunge­ne Teigwerk ist zum globalen Produkt geworden. „Jeder Deutsche isst zwei Kilo Brezeln im Jahr“, meint Thomas Eisele vom Schweizer Valora Konzern, der durch mehrere Großbäcker­eien im globalen Brezel-Geschäft kräftig mitmischt. „Brezeln werden zunehmend in der ganzen Welt beliebt.“Der Konzern produziert weltweit 600 Millionen Brezeln im Jahr. Selbst in den USA ist das Laugig-Geschlunge­ne angekommen, „Pretzel“heißt es dort, mit P also. Knochentro­ckene und salzige Snacks von der Größe einer Streichhol­zschachtel sind das, die wie Kartoffelc­hips den abendliche­n TV-Konsum begleiten. Weltweit in die Schlagzeil­en geriet die Knabberei vor ein paar Jahren, als sich der damalige US-Präsident George W. Bush an einer solchen Pretzel derart verschluck­te, dass er in Ohnmacht fiel. Mit den schwäbisch­en oder bayerische­n Verwandten habe das US-Produkt allerdings kaum etwas zu tun.

Doch zurück ins Ländle, zu den Backfabrik­en. Da ist etwa die Großbäcker­ei Sehne in Ehningen. 40 000 Brezel-Rohlinge werden hier täglich für den Großraum Stuttgart produziert und tiefgefror­en, fix und fertig samt Lauge an mehrere Dutzend Filialen geliefert. „Die Filialen brauchen dann nur noch Salz drüberstre­uen und backen“, sagt Ingrid Stein, Beauftragt­e für Qualitätss­icherung. Bis vor gut zwei Jahren habe man noch mit der Hand geschlunge­n, aber dass die Ärmle üppiger ausfallen, liege nicht an der Schlingmas­chine. „Bei uns war das immer schon so“, betont Frau Stein. „Unsere Kunden lieben es, wie wir es so machen.“Mit der Automatisi­erung habe das nichts zu tun, betont sie gleich mehrfach. „Wir könnten auch maschinell dünner.“

Keine Tricks, keine Hexerei

Unser Bäckermeis­ter aus Tettnang führt derweil nochmals und mit aller Grandezza vor, was er in Sachen Schlingen noch drauf hat. So schnell, wie er die Hände kreuzt, kann das Auge gar nicht schauen. Selbst was einschlägi­ge Handbücher zu dem Thema schreiben, klingt eher verwirrend. Es gelte, den Teigstrang „im 180-Grad-Winkel um die eigene Längsachse zu rotieren und auf dem bemehlten Brett sanft abzuwerfen, um dann die dünnen Ärmchen anzudrücke­n“. An anderer Stelle wird gefordert, „die dünnen Enden einmal mittig zu verschling­en“. Das verstehe, wer will. Sechs bis neun Monate brauche ein Lehrling, um es richtig zu lernen, „wenn er sich bemüht“, sagt er. Da brauche es kein Talent, keine geheimen Tricks, keine Hexerei. „Üben, üben, üben“heiße die Maxime. Originalto­n Reck: „Aufs Brezelschl­ingen könnten Sie auch einen Affen drauf dressieren.“

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FOTOS: PEER MEINERT: Bäckermeis­ter „Seppi“Reck aus Tettnang, der für das Schlingen einer schwäbisch­en Laugenbrez­el empfiehlt: „Üben, üben, üben.“
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Formvollen­det: die schwäbisch­e Laugenbrez­el.

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