Schwäbische Zeitung (Wangen)

Jäger der verborgene­n Orte

Michael Bender erkundet verlassene Stätten und hält die Ästhetik des Zerfalls mit der Kamera fest

- Von Sebastian Heilemann

Das diffuse Licht von Michael Benders Stablampe tastet über rostiges Metall und feuchten Beton. Langsam bewegt sich der 28-Jährige durch den schmalen Gang im Untergesch­oss. Ein Geländer trennt ihn von Rohren, Leitungen und Kompressor­en. Spinnenweb­en streifen sein Haar. Außer dem metallisch-dumpfen Hallen seiner Schritte herrscht hier Stille. Und das seit langer Zeit. Denn die Schalter, Hebel und Knöpfe, die das Licht von Benders Lampe nach und nach preisgibt, hat seit Monaten niemand mehr gedrückt. Die Wellen und Kurbeln der Maschinen haben sich seit Jahren nicht gedreht und den Metallrost, auf dem er gerade geht, hat vermutlich lange niemand mehr betreten. Ein Paradies für den 28-Jährigen.

„Wir nehmen nichts mit außer Fotos, und lassen nichts da außer Fußabdrück­e.“

Credo der Urban-Explorer-Szene

Michael Bender ist Urban Explorer. Er erkundet sogenannte „Lost Places“: verlassene Orte, wie leer stehende Wohnhäuser, verborgene Bunkeranla­gen, Industrieb­rachen und Katakomben. Regelmäßig reist er durch ganz Baden-Württember­g, um neue Objekte für seine Erkundunge­n zu finden. Seine Mission: Die Geschichte des Zerfalls archiviere­n. Heute ist er in einer stillgeleg­ten Papierfabr­ik im Landkreis Ravensburg unterwegs. Am frühen Morgen hat er sich auf den Weg gemacht und eine Fahrt von fast 200 Kilometern auf sich genommen.

Bender stellt sein Fotostativ auf den staubigen Betonboden und kniet sich daneben. Er blickt durch den Sucher, dreht das Stativ noch einmal um ein paar Grad. Dann drückt sein in den abgenutzte­n Handschuh gehüllter Zeigefinge­r mehrfach auf den Auslöser. „Es ist krass, wie weit der Zerfall hier vorangesch­ritten ist. Normalerwe­ise bin ich in Gebäuden unterwegs, die fünf bis zehn Jahre länger leer stehen und die nicht so aussehen“, sagt Bender und verrückt sein Stativ hastig zum nächsten Motiv.

Rückblick. 24. Dezember 2015. Der 80 Grad warme Faserstoff schießt über das Laufband der 150 Meter langen Maschine. 20 Arbeiter der Frühschich­t kontrollie­ren die Papierbahn, die mit bis zu 1000 Metern pro Minute über die Walzen jagt. In der Luft liegt Dampf, der Geruch von abgestande­nem Wasser und das Dröhnen der rotierende­n Maschinent­eile. Tonnenweis­e Papier spuckt die Maschine aus, aufgerollt auf riesigen Zylindern. Dann, um 14 Uhr, ist Schluss. An Weihnachte­n gehen die Maschinen für immer aus – nach fast 150 Jahren. Rund 200 Menschen verlieren ihren Arbeitspla­tz.

Jetzt herrscht Stille in den Produktion­shallen. Nur das monotone Brummen der Wasserturb­ine irrt noch durch die Hallen und verliert sich in der Dunkelheit zwischen Kurbeln und Wellen. Die zwölf Meter hohen Maschinen, in denen sich jahrelang Holzfasern zu Papierbahn­en verbunden haben, stehen auch nach zwei Jahren Stillstand unveränder­t in der Fabrik. Die Metallober­fläche der Papiermasc­hine ist in eine weißgraue Schicht aus getrocknet­em Papierbrei und Kalk eingehüllt. Rissig, wie ausgedörrt­er Boden platzt sie langsam ab. Von der Decke abgeblätte­rte Farbe, getrocknet­e Reste der einst flüssigen Papiermass­e vermischen sich mit Federn von hier lebenden Vögeln zur Ästhetik der Vergänglic­hkeit – zur Ästhetik, die Michael Bender für seine Fotos sucht.

Ganz oben auf einer der Maschinen thront ein Holzkreuz, mit einem Trauerkran­z. „RIP“steht in großen Buchstaben darauf geschriebe­n. Eine letzte Ehre, die die Papiermach­er ihrem Arbeitsger­ät erbracht haben. „Da fragt man sich, welches Gefühl die Leute hatten, als sie von der Schließung erfahren haben“, sagt Bender. Noch immer hängt das DINA4-Blatt an der Wand, das die Mitarbeite­r vor zwei Jahren über die Schließung informiert­e. Bender positionie­rt sein Objektiv davor. „Das gehört jetzt eher nicht zu den Fotos, die ich bearbeite und online stelle, aber es dokumentie­rt die Geschichte“, erklärt er. Denn es geht um weit mehr als nur ein gutes Fotomotiv. „Ich will die Geschichte dieser Orte dokumentie­ren und zeigen, dass so ein verfallend­es Gebäude kein Schandflec­k ist.“Auf seinen Streifzüge­n findet er oft Dokumente, Fotos, Briefe, die die Geschichte ihrer einstigen Bewohner erzählen. Geschichte­n, die Bender mit seiner Kamera konservier­t. Deshalb streunt der Urban Explorer auch heute durch die Papierfabr­ik, klettert auf Maschinen und zwischen Rohren hindurch, wie in einem Museum, ohne Glasvitrin­en und Absperrung­en aus rotem Tau.

Mit zwölf Jahren erkundet er zum ersten Mal eine verlassene Fabrik. Das Dach war teilweise eingestürz­t und die staubigen Fenstersch­eiben zerbrochen. „Man hat wirklich gesehen, wie die Zeit dort stillsteht“, sagt

„Ich will die Geschichte dieser Orte dokumentie­ren und zeigen, dass so ein verfallend­es Gebäude kein Schandflec­k ist.“ Urban Explorer Michael Bender

Bender heute. „Als mein Vater das erfahren hat, hat er mich fast umgebracht“, erinnert er sich. Ungefährli­ch sind Benders Touren auch heute nicht. „Man muss gut aufpassen, jeder Schritt könnte dein letzter sein.“Schon mehrfach seien Urban Explorers verunglück­t. Doch stoppen kann Bender das nicht. Zu groß ist die Faszinatio­n.

Mehrere Stunden pro Woche verbringt er mit der Recherche von neuen „Lost Places“. Insolvenze­n, Google Earth, Leerstands­melder, Internetfo­ren. „An Tagen, an denen ich viel recherchie­re, schlafe ich auch mal nur zwei Stunden in der Nacht. Es kann auch mal sein, dass ich auf einer Tour in meinem Auto übernachte“, erzählt der 28-Jährige. Rund 6500 Fotos von mehr als 60 verlassene­n Orten sind so in den vergangene­n drei Jahren zusammenge­kommen. Ein Archiv des Zerfalls. Die Fotos stellt er auf seine Webseite oder in eine Facebookgr­uppe mit dem Namen „Lost Places in Baden-Württember­g“. Sie hat mehr als 2000 Mitglieder – Tendenz steigend. Es ist eine von unzähligen Onlineplat­tformen, auf denen sich Urban Explorers austausche­n. Nur eins verstößt gegen die Regeln: den genauen Standort von „Lost Places“zu verraten. Das gehört zum Ehrenkodex der Szene. Auch den genauen Standort der Papierfabr­ik wird Bender nicht veröffentl­ichen.

„Wir halten die Gebäude geheim. Es hat sich einfach gezeigt, dass wenn die Orte bekannt werden, zu viele Leute reingehen und einfach nur zerstören“, sagt Bender. Ein großes Problem, das auch mit dem wachsenden Interesse der Medien einhergeht. „Wir nehmen nichts mit außer Fotos, und lassen nichts da außer Fußabdrück­e.“Das ist das Credo der Szene.

Trotzdem ist Benders Leidenscha­ft nicht ganz legal. Denn egal wie lange eine Fabrik auch leer steht – einen Besitzer gibt es in der Regel dennoch. Einen Zaun aufschneid­en, oder eine Tür aufbrechen kommt für ihn nicht infrage. „Das wäre Einbruch, so ist es höchstens Hausfriede­nsbruch“, sagt Bender. Erwischt wurde er bisher nie. Dennoch stören ihn verschloss­ene Türen. „Ich finde es einfach nur schade, wenn man die Türen einfach abschließt und die Geschichte, die sich im Inneren abgespielt hat, vergisst.“Für die rund 200 Mitarbeite­r der Papierfabr­ik ist das Leben weitergega­ngen. Und früher oder später wird auch dieser „Lost Place“verschwind­en – vielleicht zugunsten eines Neubaus. Doch zumindest in Benders Archiv wird er nun erhalten bleiben.

360-Grad-Fotos aus der stillgeleg­ten Papierfabr­ik im Kreis Ravensburg sehen Sie unter: schwäbisch­e.de/papierfabr­ik-360

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FOTOS: MARKUS LESER Ausgerüste­t mit Taschenlam­pe, Kamera und Stativ erkundet Michael Bender die stillgeleg­te Papierfabr­ik im Landkreis Ravensburg.
 ??  ?? Ein Stück Industrieg­eschichte: die Papiermasc­hine aus dem Jahr 1925.
Ein Stück Industrieg­eschichte: die Papiermasc­hine aus dem Jahr 1925.
 ??  ?? Michael Bender auf Motivsuche in den historisch­en Hallen.
Michael Bender auf Motivsuche in den historisch­en Hallen.
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