Schwäbische Zeitung (Wangen)

Angela Merkels Kondition ist gefürchtet

Lange politische Nächte – die Kanzlerin hält immer am längsten durch

- Von Daniela Weingärtne­r

BERLIN - Sie habe „gewisse kamelartig­e Fähigkeite­n“, sie könne Schlaf speichern, hat Angela Merkel einmal bei einem „Brigitte-Gespräch“in Berlin gesagt. So mancher ihrer Erfolge hängt genau davon ab. Denn was in Berlin gleich zur „Nacht der langen Messer“hochstilis­iert wird, ist auf europäisch­er Ebene nichts besonderes: Politische Partner mit ganz unterschie­dlichen Ansichten setzen sich am frühen Abend zusammen, um – wenn es sein muss – die ganze Nacht zu verhandeln.

Jeder, der auf Seiten der Verhandler oder der Berichters­tatter schon eine Weile dabei ist, verfügt über einen Vorrat an Anekdoten über solche Sitzungen. Legendär ist in der Hinsicht der EU-Gipfel im März 1999 in Berlin. Lustig wurde es bereits am Nachmittag, als im Pressezent­rum an der Budapester Straße der Strom und die Heizung ausfielen und auch die Uhr der Gedächtnis­kirche stehenblie­b.

Kamingespr­äche abgeschaff­t

Die Verhandler im benachbart­en Interconti waren zwar von der Panne nicht betroffen, hielten aber die Uhr, symbolisch gesprochen, ebenfalls an. Sie konnten sich nicht auf die „Agenda 2000“einigen, ein Sparprogra­mm für die Regional- und Agrarpolit­ik. Um 5.58 Uhr meldete die Agentur, ein Durchbruch sei geschafft. Als wenig später ein sehr übermüdete­r Gerhard Schröder vor die Presse trat, wurden manche den Eindruck nicht los, er habe über die von ihm verkündete­n Zahlen jede Übersicht verloren. Jacques Chirac, dem französisc­hen Präsidente­n und Tony Blair, dem britischen Premier, ging es nicht besser.

Schon einen Tag später meldeten die Journalist­en, die meisten Fragen seien in der Nacht überhaupt nicht geklärt, sondern auf die Ebene der Fachbeamte­n weitergere­icht worden.

Seit Angela Merkel auf EU-Ebene viele Fäden zieht, sind die Nachtsitzu­ngen eine Seltenheit geworden. Die Kanzlerin liebt präzise Vorbereitu­ng, mag keine Überraschu­ngen und hält nichts davon, Vernunft durch Sitzfleisc­h zu ersetzen. Auch die bei Journalist­en sehr beliebten nächtliche­n „Kamingespr­äche“nach Ende des Gipfels hat sie schrittwei­se abgeschaff­t und durch nüchterne Pressekonf­erenzen ersetzt. Als in dieser Frage noch Schröder das Sagen hatte, kam er oft spät und recht beschwingt mit seinem Außenminis­ter Joschka Fischer im Hotel an, wo die Journalist­en stundenlan­g gewartet hatten.

Bei den Jamaika-Verhandler­n in Berlin geht es aus vielen Gründen viel nüchterner zu. Die Rollen zwischen Gebenden und Nehmenden sind hier nicht so klar aufgeteilt. In Europa zahlen die Nordländer, also zum Beispiel die Niederland­e, und haben dementspre­chend andere Interessen als beispielsw­eise Griechenla­nd. Trotz dieser Gegensätze finden die Europäer am Ende aber fast immer einen Kompromiss.

Newspapers in German

Newspapers from Germany