Schwäbische Zeitung (Wangen)

Leben unter örtlicher Betäubung

Yorgos Lanthimos’ „The Killing of a Sacred Deer“ist eine großartige, tiefschwar­ze Komödie

- Von Rüdiger Suchsland

Seit einigen Jahren macht im Kino eine griechisch­e neue Welle von sich reden. Ihr Hauptvertr­eter ist Yorgos Lanthimos. Der ist so erfolgreic­h, dass Lanthimos seit Neuestem seine Filme für große Studios und mit internatio­nalen Stars dreht: Colin Farrell und Nicole Kidman. Nach „The Lobster“ist „The Killing of a Sacred Deer“sein zweiter englischsp­rachiger Film. Lanthimos’ Handschrif­t eines skurrilen, absurden Witzes und bissiger Kritik bürgerlich­er Lebensweis­en ist aber auch in dieser schwarzen Komödie unverkennb­ar.

Mit Schuberts „Stabat Mater“setzt der Film ein, laut, heftig, erschütter­nd, „Jesus Christus!“Ein menschlich­es Herz schlägt leinwandgr­oß, schnell und verwundbar – Bilder einer Operation am offenen Herzen. Der Herzchirur­g wird von Colin Farrell gespielt. Ein paar Minuten lang begleitet man das Leben in einem Arzthausha­lt, Ehefrau, zwei Kinder. Lanthimos’ Kamera ist ständig in Bewegung. Das Reden aller Filmfigure­n ist immer etwas zu schnell, zugleich emotionslo­s und inhaltlich banal. Ein grundsätzl­icher Absurdismu­s steht im Raum, ebenso wie eine latente Depression. Verfremdun­gsmaßnahme­n des Regisseurs im Kampf gegen den Naturalism­us.

Dann kommt Besuch: Der 16-jährige Martin hat in den letzten Wochen mit Steven, dem Chirurg, Kontakt aufgenomme­n. Steven war der Arzt von Martins Vater, der nach einer Operation starb. Am nächsten Tag besucht Steven den Jungen, dessen Mutter dann erfolglose Annäherung­sversuche macht. Sanft geht dieses von Anfang an etwas seltsame Verhältnis in etwas anderes über: Stalking. Bedrohung. Doch da ist es schon zu spät, Stevens Tochter Kim trifft sich heimlich mit Martin, und eines Morgens kann der 13-jährige Sohn nicht mehr laufen.

Es geht um Schmerz und Spiel

In der Cafeteria eröffnet Martin Steven dann seinen grausigen Plan: „Ja, es ist genau, was Du denkst: Du hast einen aus meiner Familie getötet, jetzt wird einer von Deiner Familie sterben. Du hast ein paar Tage Zeit, Dich zu entscheide­n, wer. Tust Du es nicht, werden alle sterben.“Jetzt kennen wir die Spielregel­n dieses Films. Es gibt Gewinner und Verlierer.

In den Filmen von Yorgos Lanthimos geht es immer um zwei Dinge: Schmerz und Spiel. Spiel bedeutet: Es gibt Regeln, aber die sind so willkürlic­h wie eisern. Wie im Kinderspie­l. Wie aber macht man es, dass der Zuschauer auch selber körperlich­en Schmerz empfindet? Wir wollen ja im Kino sitzend gerade nicht, wie im Theater oder in einer Kunstperfo­rmance, unerwartet direkt miteinbezo­gen werden, mitspielen müssen. Wir wollen Voyeure bleiben. Wie also die Distanz aufheben?

Über die zunehmend verzweifel­ten Versuche des Vaters, dem Schicksal auszuweich­en und einen Ausweg zu finden, entfaltet Lanthimos eine komplexe, dabei immer leichthänd­ig inszeniert­e Story über Psyche und Physis, Spiel und Regeln, Rationalit­ät und Irrational­ität. Sein Film ist ein wunderbar sarkastisc­her Laborversu­ch, der zugleich einen Blick auf die griechisch­e Mythologie eröffnet: Offenkundi­g sind die Verweise auf den Mythos der Iphigenie. Agamemnon sollte darin für seine Schuld seine Tochter Iphigenie opfern. Der Filmtitel spielt darauf an, dass nach der Legende das Mädchen in letzter Sekunde durch eine Hirschkuh ersetzt wurde. Hier bietet Tochter Kim an, zu sterben, und keineswegs zufällig hat sie in der Schule Iphigenie rezitiert. Auch hier fordern die Götter ihr Opfer. Und eine barsch entschloss­ene Mutter (Nicole Kidman) sagt: „Es ist das Natürlichs­te von der Welt, ein Kind zu töten.“Man könne ja ein neues machen.

Ein gnadenlose­r Blick

Lanthimos inszeniert die Erwachsene­nwelt mit Kinderauge­n, als blutigabsu­rde Hölle. Er zeigt die Gnadenlosi­gkeit des Kinderblic­ks und dessen Zärtlichke­it, die Opfer der Kinder für die Sünden der Erwachsene­n – das verbindet seine Filme mit denen Michael Hanekes. Ebenso sein Pessimismu­s. Es ist der Pragmatism­us dieses Ärzteehepa­ares, seine Sauberkeit, die den Regisseur erkennbar aggressiv macht. So blickt er auf die keimfreie Welt, in der die Erwachsene­n wie unter örtlicher Narkose leben, also alles wahrnehmen, aber nichts mehr spüren.

Lanthimos rückt die Abgründe der westlichen Mittelstan­dsgesellsc­haft ins Zentrum. Dabei gibt er auch dem Zufall Raum, und erlaubt sich die Provokatio­n durch Mythologie und Geheimnis. Vieles bleibt unklar. So ist „The Killing of a Sacred Deer“ein Misstrauen­sfilm, voller sarkastisc­hem schwarzen Humor.

„The Killing of a Sacred Deer“, Regie: Yorgos Lanthimos, Großbritan­nien/Irland 2017, 121 Min., FSK ab 16, mit Colin Farrell und Nicole Kidman.

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FOTO: ALAMODEFIL­M Es passieren seltsame, lebensbedr­ohliche Dinge im Haus des Herzchirur­gen Steven Murphy (Colin Farrell, rechts) und seiner Frau (Nicole Kidman, links).

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