„Wir sind zu blöd für Zielgruppendenken“
Tocotronic machen auf „Die Unendlichkeit“unbeirrt ihr Ding
Seit einem Vierteljahrhundert machen Tocotronic aus Hamburg bereits Musik. Am Freitag, 26. Januar, erscheint mit „Die Unendlichkeit“(Universal Music) das neue Album von Dirk von Lowtzow und seiner Truppe. Kara Ballarin hat mit Arne Zank und Rick McPhail über den Reiz des Zurückschauens, den G20-Gipfel und das Warten auf den Veröffentlichungstermin gesprochen.
2018 feiern Tocotronic das 25-jährige Bestehen. Kamt ihr deshalb auf die Idee, ein autobiografisches Album zu schaffen?
Arne Zank: Nicht so sehr zeitlich, weil die silberne Hochzeit bevorstand. Dirk schreibt die Lieder, er hatte viele autobiografische Bücher gelesen und vor zwei Jahren angefangen, die Lieder zu schreiben. Er stellt sich gerne Aufgaben, an denen er sich abarbeitet. Aber wenn man wie wir ein gewisses Alter erreicht und eine Distanz zur eigenen Jugend entwickelt hat, dann reizt es schon, noch mal zurückzuschauen.
Auf „Die Unendlichkeit“nehmt ihr eure Hörer nicht nur textlich, sondern auch musikalisch mit auf eine Zeitreise. Hat es Spaß gemacht, in Liedern wie „Hey Du“mal wieder loszuschrammeln und zu knüppeln wie in den Anfangstagen von Tocotronic, zu Zeiten der Hamburger Schule?
Zank: Uns haben mehrere Dinge gereizt. Zum einen hatten wir einfach Lust, nach dem „Roten Album“voller Liebeslieder wieder eine rockigere Platte zu machen. Die Lieder auf dem neuen Album erzählen immer aus einer gewissen Zeit. Da fließen musikalische Einflüsse aus bestimmten Zeiten mit ein. Es war aber nicht unser Dogma, es hat auch nicht immer geklappt. Wenn doch, hat uns das sehr gefreut.
Bei welchem Lied ist das besonders gelungen?
Zank: Zum Teil sind es nur Details, etwa der Beat bei „Electric Guitar“. Das ist der Beat aus den Jugendzeiten, in denen wir Smiths und Prefab Sprout-Platten gehört haben. Rick McPhail: Wir wollten dabei aber nicht nach Coverband oder „Malen nach Zahlen“klingen. Es geht eher um Einflüsse aus bestimmten Zeiten, die sich in den Liedern wiederfinden.
Am Anfang jeder Platte stehen die Texte, die Frontmann Dirk von Lowtzow schreibt. Wie bringt ihr euch in den Prozess ein?
McPhail: Der ist immer unterschiedlich. Für das letzte Album hat Dirk uns die Lieder akustisch auf der Gitarre vorgespielt.
Zank: Am Anfang will man ein grundlegendes Arrangement haben. Dann sind wir immer wieder drangegangen, es kamen Arrangements von anderen Leuten dazu, und dadurch haben sich die Lieder noch mal ganz verändert. Es war diesmal sehr prozesshaft und hat sich bis zum Schluss immer wieder verdreht.
Den Zeiten von Shuffle-Funktionen und Musik-Streamingdiensten stellt ihr euch nun mit einem weiteren Konzeptalbum entgegen. Warum?
Zank: Es ist einfach das, was wir tun. Ich höre auch viel auf Shuffle und finde das gar nicht verwerflich. Damit wir aber zu was kommen, geht es nur über ein Album. Damit sind wir aufgewachsen. Wir denken in dieser Form, da kommen uns die meisten Ideen. Wir streben eine Erzählung mit A- und B-Seite an. Beim Autobiografischen war es reizvoll, dass wir von der Chronologie ausgegangen sind. So haben wir auch aufgenommen: Wir haben mit dem ersten Lied angefangen und mit dem zweiten weitergemacht. Da haben wir immer das Vorher und Nachher mitgedacht.
Auf „Die Unendlichkeit“gibt es eine krasse musikalische Bandbreite – vom orchestralen, fulminanten Titelsong gleich zum Anfang bis hin zu „Ich würd’s Dir sagen“, das auf Gesang und Gitarre reduziert eher wie ein Jungscharlied daherkommt. Wollt ihr die Pralinenschachtel bieten – für jeden Geschmack ist was dabei?
Zank: Wir sind zu blöd für Zielgruppendenken.
McPhail: Wenn man in Alben denkt, macht es das spannender, wenn man eine Dramaturgie hat. Es gibt die ganz großen und die kleineren Lieder. Ich bin mit den Beatles aufgewachsen, da gibt es auch ganz reduzierte Lieder wie „Michelle, ma belle“. Es gibt kleine und große Momente.
Wie im echten Leben.
McPhail: Ja, genau. Textlich ist das neue Album viel konkreter als die aus den vergangenen Jahren, weniger sloganhaft.
Leben wir in Zeiten, in denen konkretes Reden wichtig ist?
Zank: Die Stücke sind vor zwei Jahren entstanden. Das war eher eine Entwicklung aus uns oder aus Dirk heraus. Er brauchte die Texte, die theoretischer, abstrakter waren. Jetzt wendet er sich zum Konkreteren hin.
Die Platte ist textlich unpolitisch – ungewöhnlich für eine Band, die sich klar politisch links positioniert.
Zank: Ich finde es gar nicht wesentlich anders als vorher. Wenn man das Album politisch lesen will, kann man das tun. In „Hey Du“geht es etwa auch darum, wie man mit homophoben Beleidigungen umgeht. Die politische Haltung ist auf jeden Fall klar. Das politische Lied war noch nie unsere Stärke, unser Zugang dazu läuft eher über Poesie.
Einer eurer ersten Auftritte war in der Roten Flora in Hamburg, in der ihr im Laufe eurer Geschichte häufiger aufgetreten seid. Hat die Gewalt beim G20-Gipfel in Hamburg an eurer Sicht auf das autonome Zentrum dort etwas verändert?
Zank: Die solidarische Haltung zur Roten Flora hat sich in keiner Weise verändert, sie ist eher noch stärker geworden. Es ist erschreckend, was da bei den Prozessen gegen Demonstranten in Hamburg abgeht. Es ist noch viel wichtiger geworden, klare linke Positionen auf die Straße zu bringen.
Wie fühlt es sich eigentlich an, auf die Veröffentlichung einer Platte zu warten, die bereits fertig ist?
Zank: Man freut sich, wenn sie fertig ist. Gerade diesmal war das so lange in der Schwebe. Dann materialisiert es sich und ist irgendwann fertig, das ist ein tolles Gefühl. Und dann merkt man, dass man es auch gerne zeigen will. Dafür macht man das ja, für den Applaus.
McPhail: Wir müssen schon lange warten, bis wir unser Werk endlich zeigen können. Manchmal denkt man schon: Könnte ich das nicht vielleicht schon mal ins Netz stellen?
Live: 8.4. Stuttgart, Theaterhaus; 11.4. Freiburg, E-Werk; 12.4. München, Tonhalle