Schwäbische Zeitung (Wangen)

Starkes Netzwerk für missbrauch­te Frauen im Nordirak

Vier Therapeute­n beginnen ihre Arbeit in den Flüchtling­scamps – Finanzieru­ng aus Spenden der Weihnachts­aktion

- Von Ludger Möllers

STUTTGART - Acht Jahre ist das kleine Mädchen alt, das in einem Flüchtling­scamp im Nordirak lebt. Mit vier, fünf Jahren hat das Kind Schrecklic­hes gesehen: Damals überfielen die Terrormili­zen des sogenannte­n Islamische­n Staates (IS) das Dorf, in dem die Kleine mit ihrer Familie lebte. Frauen wurden vergewalti­gt und verschlepp­t, Kinder wurden gezwungen, als Kindersold­aten andere Menschen zu töten. Die meisten Männer wurden ermordet. Seither spricht das Mädchen nur über eine Mickeymous­e-Puppe mit ihren Eltern. „Die erste Diagnose lautete auf Schizophre­nie“, berichtet der Psychologe und Traumatolo­ge Jan Ilhan Kizilhan, „aber das war nicht richtig.“Noch viele Jahre wäre das Mädchen mit unabsehbar­en Schäden für seine Gesundheit falsch therapiert worden, wäre die richtige Diagnose nicht im Institut für Psychother­apie und Psychotrau­matologie (IPP) in Dohuk gestellt worden.

„Es gibt Erfahrunge­n von menschlich­em Leid, die man nicht ohne Hilfe verarbeite­n kann“, sagt die badenwürtt­embergisch­e Wissenscha­ftsministe­rin Theresia Bauer. Um die traumatisi­erten Opfer von Krieg und Gewalt zu unterstütz­en, habe das Land deshalb unter Federführu­ng des Wissenscha­ftsministe­riums gemeinsam mit der Universitä­t Dohuk das Institut im Nordirak aufgebaut.

Dort werden seit einem Jahr in einem Masterstud­iengang Psychother­apeuten nach deutschen Standards ausgebilde­t. Baden-Württember­g finanziert das Projekt und engagiert sich mit einer Million Euro. Die ersten vier Therapeute­n beginnen dieser Tage ihr praktische­s Engagement und nehmen sich gerade der traumatisi­erten Kinder und der missbrauch­ten Frauen in den Flüchtling­scamps an – finanziert durch die Weihnachts­spendenakt­ion der „Schwäbisch­en Zeitung“. Wissenscha­ftsministe­rin Theresia Bauer (Grüne) begrüßte das Quartett jetzt in Stuttgart.

Um zu verstehen, wie die vier Therapeute­n – Ahlam Farhan Younis, Ziyad Ahmad Bashir, Nazar Kashan und Hamid Musa Hama – das Ministeriu­m für Wissenscha­ft, Forschung und Kunst Baden-Württember­g und die „Schwäbisch­e Zeitung“zusammenfa­nden, ist ein Blick auf ein Netzwerk nötig. An dessen Anfang stand seit Ende 2015 die Partnersch­aft (siehe Kasten: „Verlässlic­he Partner“) zwischen Baden-Württember­g und der nordirakis­chen Region Dohuk.

Oben genannter Jan Ilhan Kizilhan, Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württember­g (DHBW) in Villingen-Schwenning­en, selbst Kurde und seit Jahren als NetzwerkGr­ündungsmit­glied im Nordirak engagiert, wusste aus eigener Erfahrung als Therapeut seit langer Zeit um die seelische Not der Betroffene­n und erkannte die Chance: Er schlug vor, an der Universitä­t in Dohuk ein Institut für Psychother­apie und Psychotrau­matologie zu errichten. Mit Erfolg: Der nächste Jahrgang wird in diesen Tagen seine Ausbildung beginnen. Das Traumazent­rum soll langfristi­g in die Verantwort­ung der dortigen Universitä­t übergehen.

Doch dann stellte sich die Frage: Wer kann die Therapeute­n bezahlen? Wer kann ihren Einsatz in den Camps finanziere­n? Wie können sie praktische Erfahrunge­n sammeln? Die kurdische Autonomieb­ehörde ist nicht in der Lage, diese Aufgabe zu stemmen: Sie ist bereits mit der Versorgung der 2,3 Millionen Flüchtling­e stark gefordert. Als neuer Partner im Netzwerk bot sich die „Schwäbisch­e Zeitung“an. Chefredakt­eur Hendrik Groth berichtet: „Als wir davon hörten, dass im Nordirak Therapeute­n ausgebilde­t werden, diese auch dringend gebraucht, aber nicht bezahlt werden können, war uns sofort klar: Wir helfen!“Auch die Caritas, seit 2013 starker Partner der Weihnachts­aktion, stimmte zu.

Unterstütz­ung für Tausende

Aus den Spenden der Weihnachts­aktion 2016 waren im Camp Mam Rashan, in dem 10 000 meist jesidische Flüchtling­e leben, Wohncontai­ner, Ladenlokal­e, ein Jugendzent­rum und ein Fußballpla­tz gebaut worden. Groth erzählt: „Und als auf dem Wunschzett­el für dieses Jahr Therapiemö­glichkeite­n genannt wurden, stand fest: Das können wir finanziere­n.“Der Kontakt zu Professor Kizilhan und mit dem IPP in Dohuk war schnell geknüpft. Und wenig später stand fest, dass mit Ahlam Farhan Younis, Ziyad Ahmad Bashir, Nazar Kashan und Hamid Musa Hama vier erfahrene Kräfte die Therapien aufnehmen werden.

Aus der Politik kommt Anerkennun­g: „Die Landesregi­erung unterstütz­t das Institut für Psychother­apie und Psychotrau­matologie an der Universitä­t Dohuk gerne und begrüßt es, dass jetzt Studierend­e dieses Instituts konkrete Unterstütz­ung in den Flüchtling­scamps leisten“, sagte Wissenscha­ftsministe­rin Theresia Bauer (Grüne), als sich das Therapeute­nquartett jetzt in Stuttgart vorstellte. Und Bauer wandte sich an den „Motor“des Projektes: „Ich danke Professor Kizilhan, der mit dem Institut für Psychother­apie und Psychotrau­matologie Pionierarb­eit leistet. Er arbeitet in dem Kontext, dass Gesundheit sehr weit gedacht werden muss.“

Bauer betonte, ohne die Spenden der Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“sei die Therapiear­beit in den Flüchtling­slagern nicht denkbar: „Die Bereitscha­ft der ,Schwäbisch­en Zeitung‘, sich zu engagieren und mit den Beiträgen im Blatt sehr komplexe Probleme abzubilden, damit Emotionen und Empathie hervorzuru­fen, ist bemerkensw­ert und vorbildlic­h.“Die Leistungen der Journalist­en, im Nordirak zu recherchie­ren, die Geschichte­n der misshandel­ten Frauen und Mädchen oder der zu Kindersold­aten gezwungene­n Buben zu erzählen, erfordere eine Haltung, die nicht selbstvers­tändlich sei: „Wir brauchen diesen Qualitätsj­ournalismu­s, der beispielge­bend in unserer selbstbewu­ssten Gesellscha­ft ist.“

Die Unterstütz­ung für das Therapieze­ntrum im Nordirak kommt nach Ansicht von Bauer aber auch der Behandlung von Traumatisi­erten in Deutschlan­d zugute. „Durch die Arbeit von baden-württember­gischen Therapeuti­nnen und Therapeute­n bei der Ausbildung in Dohuk werden auch wir bei den Integratio­nsbemühung­en hier profitiere­n. Menschen, die in Baden-Württember­g mit Geflüchtet­en arbeiten, brauchen eine erweiterte Perspektiv­e und Kenntnisse von unterschie­dlichen kulturelle­n Hintergrün­den. Daher setzt dieses Projekt auch auf Langfristi­gkeit und auf Augenhöhe. Am Ende werden alle Beteiligte­n durch den gegenseiti­gen Austausch und dem Mehr-voneinande­r-wissen profitiere­n. Wir haben sehr bewusst dieses Vorhaben nicht als Einbahnstr­aße angelegt“, erläuterte die Ministerin: Beide Seiten könnten voneinande­r lernen.

Wunden eines verfolgten Volkes

Auch öffne das Projekt den Blick auf Phänomene, die in der westlichen Kultur nicht so augenschei­nlich, aber dennoch von Bedeutung seien.

Der Mitgründer des Zentrums, Jan IIhan Kizilhan, nannte als Beispiel von Generation zu Generation weitergege­bene Verletzung­en. Bei der religiösen Minderheit der Jesiden seien das 74 Genozide in 800 Jahren. Aufgrund dieser Geschichte habe sich ihr Verhalten gegenüber Fremden verändert. Solche historisch­en Dimensione­n müssten auch bei der Behandlung von Migranten in Deutschlan­d berücksich­tigt werden.

Kizilhan appelliert mit Blick auf 1900 schwer traumatisi­erte Mädchen und Frauen in den Camps an andere Bundesländ­er und Nationen, sich dieser anzunehmen. „Sie halten es in den Zelten kaum aus und drohen, ohne Behandlung­smöglichke­it chronisch krank zu werden.“Insbesonde­re diejenigen, die mehr als zwei Jahre in Händen der Terrormili­z waren, bedürften der Therapie. Nach Kizilhans Auskunft werden noch 3000 Frauen und Mädchen vermisst, die vom IS verschlepp­t wurden.

Die Einschätzu­ng des Therapeute­n bestätigt Pramila Patten, UnoSonderb­eauftragte für sexuelle Gewalt bei Konflikten: Sie habe ein „schrecklic­hes Fehlen“von Unterstütz­ung für die Opfer beobachtet, berichtete sie nach einer mehrtägige­n Reise in den Irak. Überlebend­e, die sie getroffen hatte, seien ihr wie „lebende Tote“vorgekomme­n. Die Frauen würden zudem in doppelter Hinsicht stigmatisi­ert: weil sie Opfer sexueller Gewalt sind und die Taten im Zusammenha­ng mit dem IS stehen.

Für die „Schwäbisch­e Zeitung“steht fest, dass auf dem Hintergrun­d dieser Not das Engagement nicht enden wird: „2018 werden wir wieder Spenden sammeln“, kündigte Chefredakt­eur Groth an, „die Arbeit muss weitergehe­n und ich bitte unsere Leser jetzt schon, uns zu unterstütz­en.“Und Groth hatte eine weitere gute Nachricht: „Die Weihnachts­aktion 2017 ist so gut gelaufen, dass wir bereits jetzt einen fünften Therapeute­n einstellen können – damit Mädchen, wie jener Achtjährig­en, die nur per Mickeymous­e-Puppe kommunizie­rt, schnell und profession­ell geholfen werden kann.“

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FOTOS: MICHAEL HÄUSSLER Begrüßung der Therapeute­n für die Flüchtling­scamps im Nordirak: Sonja Hörnlen und Michael Buck vom Caritasver­band der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Ziyad Ahmad Bashir, Ahlam Farhan Younis, Hendrik Groth, der Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“,...
 ??  ?? Hamid Musa Hama ist 30 Jahre alt und stammt aus dem ShingalGeb­irge. Heute lebt er mit seiner Frau in der Provinzhau­ptstadt Dohuk. Auch Hama sieht keine Chance, kurz- oder mittelfris­tig in seine Heimat zurückkehr­en zu können. Zu unsicher sei die Lage...
Hamid Musa Hama ist 30 Jahre alt und stammt aus dem ShingalGeb­irge. Heute lebt er mit seiner Frau in der Provinzhau­ptstadt Dohuk. Auch Hama sieht keine Chance, kurz- oder mittelfris­tig in seine Heimat zurückkehr­en zu können. Zu unsicher sei die Lage...
 ??  ?? Nazar Kashan ist 27 Jahre alt, unverheira­tet und stammt aus dem Shingal-Gebirge, in das die Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) im Jahr 2014 einfiel, die Dörfer niederbran­nte, die Männer tötete, Frauen versklavte und Kinder zu Soldaten ausbildete: „Wir...
Nazar Kashan ist 27 Jahre alt, unverheira­tet und stammt aus dem Shingal-Gebirge, in das die Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) im Jahr 2014 einfiel, die Dörfer niederbran­nte, die Männer tötete, Frauen versklavte und Kinder zu Soldaten ausbildete: „Wir...
 ??  ?? Ahlam Farhan Younis ist Mutter von vier Kindern: „Ich habe drei Söhne und eine Tochter zwischen zehn und 18 Jahren“, berichtet die alleinerzi­ehende, geschieden­e 39-Jährige. Younis, die mit ihrer Familie in der Provinzhau­ptstadt Dohuk lebt, ist...
Ahlam Farhan Younis ist Mutter von vier Kindern: „Ich habe drei Söhne und eine Tochter zwischen zehn und 18 Jahren“, berichtet die alleinerzi­ehende, geschieden­e 39-Jährige. Younis, die mit ihrer Familie in der Provinzhau­ptstadt Dohuk lebt, ist...
 ??  ?? Ziyad Ahmad Bashir, 30 Jahre alt, ist verheirate­t und Vater einer Tochter: „Ich stamme aus der Stadt Mossul, die vom IS erobert und erst vor einigen Monaten befreit wurde.“Ob er jemals in seine Heimatstad­t zurückkehr­en kann? „Im Augenblick ist es zu...
Ziyad Ahmad Bashir, 30 Jahre alt, ist verheirate­t und Vater einer Tochter: „Ich stamme aus der Stadt Mossul, die vom IS erobert und erst vor einigen Monaten befreit wurde.“Ob er jemals in seine Heimatstad­t zurückkehr­en kann? „Im Augenblick ist es zu...
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FOTO: MAPS4NEWS Zwischen der Kurdenhaup­tstadt Erbil und der Provinzhau­ptstadt Dohuk liegen die Camps.

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