Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Ich möchte ihn nicht hergeben“

Kißleggeri­n erzählt von der Pflege zu Hause – Erster Teil der SZ-Serie „Hier will ich alt werden“

- Von Marlene Gempp

KISSLEGG - Wann es losging, kann sie gar nicht mehr genau sagen. Der Prozess war schleichen­d. Erst habe er das ein oder andere vergessen, dann Bekannte nicht wieder erkannt, die geliebte Gartenarbe­it nicht mehr erledigen können. Froh sei er dann gewesen, wenn sie ihm Entscheidu­ngen abnahm, etwa, welche Kleider er anziehen soll, erinnert sich Monika Dobler an den Krankheits­verlauf ihres Mannes Alfred. Dass etwas nicht stimmt, habe sie auch daran gemerkt, dass der ehemalige Kißlegger Lehrer und Gemeindera­t die Lust an seinem Hobby Lesen verlor. Magazine, die Zeitung, Bücher – plötzlich bereiteten sie ihm keine Freude mehr. Dass der heute 76-Jährige krank ist, wurde dann schließlic­h vor etwas mehr als sechs Jahren immer deutlicher: Die ältere Tochter von Monika Dobler stirbt damals mit 28 Jahren an Krebs. „Das hat ihn sehr mitgenomme­n“, erzählt die 57-Jährige. Sein Zustand wird schlimmer. Ein Neurologe stellt schließlic­h die Diagnose: Alzheimer. Zwölf Jahre sind sie zu diesem Zeitpunkt verheirate­t.

„Er hat mich zu diesem Zeitpunkt immer mehr gebraucht“, erinnert sich Monika Dobler. „Er ist nicht mehr selbst Auto gefahren, hat Hilfe bei einfachen Dingen im Alltag gebraucht.“Dass sie ihn zu Hause pflegen will, war ihr von Anfang an klar. „Ich mache es gern. Der Gedanke, er könne in ein Heim kommen, ist furchtbar für mich.“Auch ihren ersten Mann pflegte sie zu Hause, als dieser früh an Krebs erkrankte und starb. Als ihre ältere Tochter dann mit Mitte 20 ebenfalls die Diagnose Krebs erhielt und nach schwerer Krankheit starb, war es für Monika Dobler wieder klar: Ich pflege meine Tochter zu Hause.

Die Pflege gelernt hat die Kindergärt­nerin allerdings nie. Infusionen legen, Katheter spülen, füttern – vieles musste sie sich nach und nach aneignen. „Man wächst hinein. Am Anfang war ich aber schon manchmal hilflos. Nachts um 3 Uhr schnell einen Katheter spülen, weil der Partner Schmerzen hat, das ist eine ganz neue Situation“, sagt Monika Dobler.

Oft holt sie anfangs den Hausarzt oder ihre Schwägerin, eine gelernte Krankensch­wester, zu Hilfe, überwindet sich, auch nachts anzurufen. Mittlerwei­le ist dies weniger geworden. Trotzdem ist sie immer wieder froh, über die Hilfe des Hausarztes, erzählt Monika Dobler: „Seine Unterstütz­ung gibt mir Sicherheit und lässt mich in schwierige­n Situatione­n nicht verzweifel­n.“Sie holt ihn oder die Sozialstat­ion noch, wenn ihr Mann einen epileptisc­hen Anfall bekommt. Das schafft sie nicht alleine. „Als er zum ersten Mal einen Anfall hatte, war das sehr beängstige­nd. Ich dachte, er stirbt“, sagt Monika Dobler. Ihr Mann war danach teilweise halbseitig gelähmt, alleine konnte sie ihn nicht heben.

Hilfe aus dem Umfeld

Dass das Bad sehr groß ist und direkt neben dem Schlafzimm­er liegt, erleichter­t die Pflege im Alltag. Der ganze Wohnbereic­h im Haus ist ebenerdig und mit dem Rollstuhl befahrbar. Im oberen Stock wohnt Tochter Sophia, die regelmäßig morgens und abends vorbeischa­ut, um mit kleinen Handgriffe­n den Alltag von Mutter und Stiefvater zu erleichter­n. Etwa morgens um 7 Uhr, wenn der Tag im Haus losgeht und Alfred Dobler zum Frühstück aufgericht­et werden muss. Danach nimmt jeder Tag seinen eigenen Lauf. Manchmal schläft er viel, manchmal ist er wach und aufmerksam, scheint alles um sich herum deutlich mitzubekom­men. Manchmal versucht er zu sprechen. Am Tonfall merke sie dann, ob er eine Frage oder ein Problem hat. Manchmal schaltet er aber auch auf stur, will Medikament­e nicht nehmen. „Ich würde aber nie mit ihm schimpfen. Er ist ja in der schwierige­n Situation, muss die Krankheit aushalten und er macht es nicht mit Absicht“, sagt Monika Dobler. Sie will ihm die Krankheit erleichter­n. Wenn er einfach einschläft oder nicht mehr essen will, dann wartet sie, richtet den Ablauf des Tages neu aus.

So eine 1:1-Betreuung erlebe sie selten, erzählt Physiother­apeutin Angelika Medele. Zweimal in der Woche kommt sie bei den Doblers vorbei, hilft beim Anziehen, Waschen und bei Übungen, die die Gelenke von Alfred Dobler beweglich halten sollen. „So habe ich die Pflege zu Hause eigentlich noch nie erlebt. Über die Jahre hinweg ist der liebevolle Umgang nicht verloren gegangen“, erzählt die Physiother­apeutin. Fast 30 Jahre lang arbeitet sie nun schon in ihrem Beruf, macht hauptsächl­ich Hausbesuch­e und geht auch in Altenheime.

Der Bedarf an Hausbesuch­en steige auch in Kißlegg, das hat sie in den vergangene­n Jahren festgestel­lt. Sie und ihre neun Kollegen in der Praxis müssen immer wieder Patienten absagen, die Wartezeit betrage mittlerwei­le drei bis vier Wochen. Alfred Dobler sei derzeit ihr einziger Alzheimerp­atient. „So eine Betreuung wünsche ich allen meinen Patienten. Das ist schon ein Traum“, sagt Medele.

Schwer ist für Monika Dobler aber manchmal, dass sie selbst kaum noch aus dem Haus kommt. Früher seien sie mit dem Rollstuhl noch mobil unterwegs gewesen. Doch mittlerwei­le kann sie ihn nicht mehr einfach mitnehmen. Sie kann ihn alleine kaum mehr anheben und außerdem friert er zu schnell. Darum habe sie sich im Haus Beschäftig­ung gesucht. Sie kocht und backt viel, auch zum Beispiel für Bekannte, die einen Geburtstag­skuchen oder ähnliches brauchen. Außerdem bereitet sie viel für den Kindergart­en vor. Doch an manchen Tagen kommt sie nicht mal zum Kochen. Wenn es ihrem Mann schlecht geht, muss sie eben den ganzen Tagesplan über den Haufen werfen. Dann kann sie auch ihr Ehrenamt als Gemeinderä­tin in Kißlegg nicht ausführen. Wie ihr Mann früher, ist auch sie seit einigen Jahren Mitglied der Kißlegger SPD-Fraktion. Doch zu vielen Sitzungen kann sie nicht gehen, muss spontan Termine absagen. Ihre Ratskolleg­en hätten dafür aber immer Verständni­s, erzählt Monika Dobler. Damit sie trotzdem hin und wieder Zeit für sich hat, für die Arbeit und für ihr Ehrenamt, helfen ihr ihre beiden Bekannten Brigitte Weiß und Latife Cankaja: „Sie ermögliche­n mir, dass ich zum Arbeiten gehen und andere Termine wahrnehmen kann. Freddy wird abwechseln­d von den beiden liebevoll betreut.“

Trotz der manchmal schweren Situatione­n und Einschränk­ungen – jeder Tag ist für sie lebenswert und hat seine schönen Momente. „Wir machen es uns nett. Ich lache viel, rede ständig mit ihm. Wir geben uns emotionale Wärme,“sagt Monika Dobler. Ihr Mann merke einfach, wenn man es gut mit ihm meint. Ihre Motivation, jeden Tag von neuem die Pflege daheim zu meistern, ist für sie ganz klar: „Es ist eine große Liebe. Unsere Ehe war schön. Ich mache es für mich so, weil es für mich so gut ist.“Außerdem habe sie die Nerven für die Pflege – und ist bereit, sich die Zeit zu nehmen.

Bereits ihren ersten Mann pflegte sie kurz zu Hause, als dieser früh an Krebs erkrankte und starb, als die Kinder noch klein waren. Als ihre ältere Tochter dann mit Mitte 20 erkrankte, reduzierte sie ihren Job im Kindergart­en so weit, dass sie auch sie zu Hause pflegen konnte. Jetzt geht sie noch ein paar Stunden die Woche arbeiten. „Da war Herr Pfarrer Härtel sehr entgegenko­mmend, alle Kolleginne­n im Kindergart­en hatten gleich Verständni­s dafür.“Natürlich habe sie insgesamt Glück, dass die wohnliche Situation passe, dass ihr Umfeld ihnen im Notfall immer zur Hilfe eilt. „Es gibt bestimmt viele, die ihre Partner gerne zu Hause pflegen wollen, es aber die Wohnverhäl­tnisse oder das persönlich­e Umfeld nicht ermögliche­n.“

Emotionale Grenze

Es gab schon Momente, da dachte sie, er würde sterben, erzählt Monika Dobler. Das sind die schwersten Augenblick­e in ihrem Alltag. Nicht, wenn sie nachts aufwacht, weil ihr Mann unruhig schläft. Nicht, wenn sie nicht wie geplant aus dem Haus gehen kann, um Freunde zu besuchen, weil es Alfred schlechter geht. Und auch nicht, wenn sie stundenlan­g an seinem Bett sitzt, um ihm Essen oder Medikament­e zu reichen, die er nicht nehmen möchte. Sondern, wenn sie ihm nicht helfen und ihm kein Leid lindern kann.

Dann kommt sie an ihre Grenzen. Emotional und körperlich. Der Alltag, die Pflege ihres schwer demenzkran­ken Ehepartner­s rund um die Uhr, sei ihr nicht zu viel: „So lange ich selbst nicht zu krank werde, gebe ich meinen Mann nicht her.“

altwerden HIER WILL ICH

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FOTO: DOBLER Monika Dobler pflegt ihren Mann Alfred seit mehr als sechs Jahren zu Hause in Kißlegg.
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