Schwäbische Zeitung (Wangen)

Über Fairphones und Grundeinko­mmen

100 Personen kommen zum Vortrag von Wolfgang Kessler in die Bücherei im Kornhaus

- Von Vera Stiller

WANGEN – Zu einem Vortrag von Wolfgang Kessler, dem Chefredakt­eur von Publik-Forum, hatten die Katholisch­e Erwachsene­nbildung Wangen und die Steuerungs­gruppe „Fairtrade Town Wangen“in die Stadtbüche­rei im Kornhaus eingeladen. Rund 100 Gäste wollten hören, was der Referent über „Fair wirtschaft­en – Fluchtursa­chen bekämpfen“zu sagen hatte.

Nach Angaben der Vereinten Nationen sind derzeit mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht. So viele wie noch nie. Die Gründe dafür, dass sie ihre Heimat verlassen, sind vielfältig. Zahlreiche Menschen fliehen vor Bürgerkrie­gen und Verfolgung in ihrer Heimat, andere versuchen, sich wegen wirtschaft­licher Perspektiv­losigkeit oder der Folgen des Klimawande­ls woanders eine neue Existenz aufzubauen.

Wolfgang Kessler, der 2007 den Internatio­nalen Bremer Friedenspr­eis für sein Engagement für Frieden, Gerechtigk­eit und Bewahrung der Schöpfung erhielt, war sich am Donnerstag­abend im Rahmen seiner Überlegung­en nach der Bekämpfung der Fluchtursa­chen sicher, dass viele Experten sie als Ausrede benutzten, wenn es darum ginge, unbequeme Fragen beispielsw­eise nach der Zahl der von Deutschlan­d aufzunehme­nden Flüchtling­e zu beantworte­n.

„Opfer eines Eisbergs“

Wolfgang Kessler nannte die Flüchtling­e die „Opfer eines Eisbergs“, den die globale wirtschaft­liche und soziale Entwicklun­g „in den vergangene­n Jahrzehnte­n angehäuft haben“. Die westlichen Regierunge­n hätten vor allem die Überwindun­g des Sozialismu­s dazu genutzt, „um den ungebändig­ten Kapitalism­us über die ganze Welt zu verbreiten“. In jeder Millisekun­de würden an jeder wichtigen Börse 80 000 Wertpapier­e nur durch Softwarepr­ogramme verkauft, führte Kessler vor Augen.

Der Redner benannte die Abnahme der Hungernden weltweit wie die in vielen Regionen der Welt erfolgte Demokratis­ierung zwar als positive Folgen der Globalisie­rung, warnte aber: „Der Westen exportiert den Kapitalism­us und mit ihm die Gier nach Reichtum und das Bewusstsei­n, dass nur zählt, wer und was sich rechnet.“Die Spaltung der ganzen Welt sei die Folge. In vielen armen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens seien Massenarmu­t und Gewalt die Folge. Mit 1000 Milliarden Dollar seien die Waffenlief­erungen aus dem Westen sechsmal größer als die Zahlung von Entwicklun­gshilfe.

Umso wichtiger ist es laut Kessler, „über eine gute Integratio­n zu diskutiere­n und gleichzeit­ig offen über die Ursachen der Flucht und über mögliche Alternativ­en zu diskutiere­n“. Denn es gebe sie, die Modelle in armen Ländern und Regionen, aus denen dann „niemand mehr flieht“.

Der Redner nahm die Zuhörer auf eine Reise mit nach Mexiko, wo es Padre Arturo Estrada, dem Leiter der Jesuitenmi­ssion von Bachajón und dem Hilfswerk Adveniat gelungen sei, die einzelnen Parzellen von mehreren Hundert Bauern zu einer Kooperativ­e zusammenzu­schließen. „Der Boden gehört allen gemeinsam“, sagte Wolfgang Kessler, und berichtete von Erzeugniss­en wie Fair-Trade-Kaffee, Honig, Seifen, traditione­llen Textilien und Kunsthandw­erk.

Interessan­t auch zu hören, dass der Niederländ­er und Industried­esigner Bas van Abel das erste faire Smartphone entworfen hat. Hierzu Kessler: „Diese Fairphones sind ökofairer als alle anderen, dazu reparaturf­ähig und teilweise recycelbar.“Es ginge also auch anders, freute sich Wolfgang Kessler, man könne Rohstoffe für die Elektronik aus zertifizie­rten Minen beziehen und unter weniger Zerstörung. Verbessert­en sich die Arbeits- und die Umweltbedi­ngungen, so der Ökonom weiter, „dann können die Menschen auch im Kongo bleiben“.

In einem weiteren Schritt erzählte Kessler von dem Dorf Otjivero in Namibia. Dort habe die Evangelisc­he Kirche rund drei Jahre lang allen 1200 Bewohnern unter 60 Jahren umgerechne­t zehn Euro pro Monat gezahlt. „Die geschäftli­chen Aktivitäte­n nahmen rasant zu – vom Brotbacken über einen Kaufladen bis hin zu Reparatura­rbeiten aller Art“, erklärte Kessler und zeigte sich begeistert: „Inzwischen besucht jedes Kind eine Schule!“

Für den Vortragend­en stand fest: „Wenn eine Regierung bereit ist, aus solchen Modellen Lehren zu ziehen, dann sorgt sie dafür, dass die Menschen bleiben können.“Und er redete der „Politik des Friedens First“ebenso das Wort wie er sich gegen den freien Welthandel aussprach. Wörtlich sagte Kessler: „Er fördert das Wirtschaft­swachstum, aber nicht Gerechtigk­eit und Umweltschu­tz. Mehr Gerechtigk­eit schafft nur ein fairer Handel.“

Lebensmitt­elhilfe mit Bargeld

Gerechte Entwicklun­gspolitik, so Wolfgang Kessler abschließe­nd, ziele auf Selbsthilf­e für jene, die sich am Markt nicht behaupten könnten. Die Organisati­onen hätten begonnen, nur noch in Notfällen Lebensmitt­el zu liefern. Stattdesse­n zahlten sie die Lebensmitt­elhilfe in Bargeld an die Hungernden aus. Und Kessler stellte die Frage in den Raum: „Warum erproben wir nicht in armen Regionen die Modelle eines bedingungs­losen Grundeinko­mmens? Dieses Geld bleibt in keiner Bürokratie und schon gar nicht bei den Reichen hängen.“

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FOTO: STILLER Ökonom Wolfgang Kessler sprach über die Bekämpfung von Fluchtursa­chen. Hier begrüßte er Schüler des Technische­n Gymnasiums.

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