Er hatte einen Traum
50 Jahre nach der Ermordung von Martin Luther King gibt es noch immer Rassenschranken
Martin Luther King, hier am 28. August 1963 bei seinem legendären Auftritt vor der Lincoln Gedächtnisstätte in Washington (Foto: dpa), wurde zur Symbolfigur des gewaltfreien Widerstands gegen Unrecht und Unterdrückung. Dort sprach er die berühmten Worte „I Have a Dream“. Doch der Traum endete fürchterlich: Am 4. April 1968 erschoss ein Scharfschütze den schwarzen Bürgerrechtler in Memphis. Der 50. Jahrestag seiner Ermordung beschäftigt die USA.
GARDENDALE - Der Traum von Martin Luther King war es, dass seine Kinder nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden, sondern nach ihrem Charakter. Der Baptistenprediger war der Inbegriff der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA. Aber wie sieht es 50 Jahre nach der Ermordung von Martin Luther King aus? In Alabama und anderen amerikanischen Südstaaten arbeiten Aktivisten, die nichts von gemeinsamen Schulen für Schwarz und Weiß halten, mit allen verwaltungstechnischen Tricks daran, die Uhren zurückzustellen.
Terrence Roberts erinnert sich noch gut an den Tag, an dem sie Dr. Martin Luther King zu Onkel Martin gemacht haben, zum Onkel von Ernest Green. Er wollte den Prediger unbedingt dabeihaben bei der feierlichen Zeugnisübergabe seiner Schule, im Quigley-Stadium in Little Rock, zumal der Anlass ein historischer war. Als erster Schwarzer in einer größeren Stadt des amerikanischen Südens hatte der 18-jährige Green seinen Abschluss an der Central High School gemacht.
Es war 1958, der Süden stand noch immer im Zeichen der Rassentrennung. Greens Zeugnis sollte deshalb gebührend gefeiert werden. Vier Jahre nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs, der entschieden hatte, dass getrennte Schulen für Weiße und Schwarze der Verfassung widersprechen, war es der nächste Meilenstein der Bürgerrechtsbewegung. Nach den Regeln der Schule, erzählt Roberts, durften aber nur Verwandte erscheinen. „Da haben wir Dr. King eben zu Onkel Martin erklärt“, sagt er und erntet Gelächter im Saal.
East Cobb Middle School, eine Schule in Marietta, im wohlhabenden Speckgürtel um Atlanta. Roberts, ein drahtiger Mann mit blankpolierter Glatze, ist gekommen, um über die Ära der Segregation zu reden. Erst zeigt er historische Bilder von Little Rock, Arkansas, im Herbst 1957. Roberts, damals 15, steht mit aufgekrempelten Hemdsärmeln zwischen behelmten Soldaten. Sie sollen ihm eine Schneise durch eine wütende Menge weißer Südstaatler bahnen, in deren Augen Schwarze an der Central High School nichts verloren haben. „Rassen zu mischen ist Kommunismus“, steht auf einem Plakat. „Geht zurück nach Afrika!“auf einem anderen. Neun schwarze Teenager sehen sich mit mehreren Hundert zornigen Demonstranten konfrontiert. Roberts lebt heute als Unternehmensberater im kalifornischen Pasadena. Er ist beneidenswert fit für seine 76 Jahre. Auf die Frage, welche Fortschritte das Land seither gemacht habe, zitiert er Malcolm X, den feurigen Prediger schwarzen Selbstbewusstseins, der Kings gewaltlosen Widerstand als zu brav empfand. „Du hast mir ein acht Zoll langes Messer in den Rücken gestoßen. Jetzt hast du es um zwei Zoll herausgezogen. Und das nennst du Fortschritt?“
90 Prozent der Amerikaner, so sagt Roberts, hätten sich für eine Art Monokulturalismus entschieden. Sie redeten sich ein, dass man sich unter seinesgleichen wohler fühle. Das spüre man auch an den Schulen, wo der Trend vielerorts zurück zur Rassentrennung gehe.
Gardendale, eine Kleinstadt nahe Birmingham (Alabama), steht für Mittelschichtenmilieu. Der Stolz der Stadt ist die High School. 2010 wurde die Schule eingeweiht. Drei Jahre darauf tauchten Flugblätter auf. Sie zeigten ein blondes Mädchen, über dessen Kopf eine Frage zu lesen war: „Welchen Weg wird Gardendale wählen?“Die Frage sei, ob es sich ein Beispiel an Pleasant Grove oder an Homewood nehme. In Pleasant Grove ist der Anteil von Afroamerikanern an der Bevölkerung hoch, in Homewood leben überwiegend Weiße.
Verteilt wurden die Flugblätter von einer Bürgerinitiative. Jede Gemeinde mit mehr als 5000 Einwohnern kann einen eigenen Schulbezirk gründen, und genau das hatte Homewood getan. Es ging darum, weiße Schüler weitgehend von schwarzen zu trennen. Gardendales Bevölkerung besteht zu rund neun Zehnteln aus Weißen, die Schulen der Stadt werden zu etwa einem Viertel von Schwarzen besucht. Den Anteil der Schwarzen in der Schule drastisch zu senken, darum ging es der Initiative.
Ausnahmslos mit Weißen besetzt
Was Schulrat Patrick Martin freilich nie zugeben würde. Man könnte vielleicht sagen, dass die Schulinitiative die Qualität des Unterrichts steigern oder die lokale Kontrolle stärken wollte, druckst er herum. Die Stadtverwaltung Gardendales setzte ihn ein, nachdem sie, ausnahmslos mit Weißen besetzt, für die Schaffung eines eigenen Schulbezirks gestimmt hatte. Und damit für die Trennung vom Bezirk, zu dem man derzeit gehört, sprich: vom afroamerikanischen Umland. Offenbar glaubte sie, dass niemand ihr Steine in den Weg legen würde. Womit sie nicht gerechnet hatte, waren Leute wie Ricky Reeves.
Reeves war lange beim Militär, im Vietnamkrieg bei der Air Force. Man merkt es an seiner Art, in kurzen, präzisen Sätzen zu sprechen, ohne ein überflüssiges Wort. „Jemand musste sagen, hier hört es auf“, erklärt er, warum er vor Gericht zog. Als auch Gardendale dem Beispiel von Homewood folgte, hatte er das Gefühl, dass es endgültig wieder zurückgehen sollte in die 1960er-Jahre. In eine Ära, in der im Jefferson County noch die Rassentrennung herrschte. Reeves erzählt von Alene, seiner Frau, die nicht auf die nächstgelegene Schule gehen durfte und stattdessen drei Kilometer weit zur Schule für Schwarze laufen musste. In die weißen Bildungseinrichtungen sei das Gros der Steuergelder geflossen, die schwarzen habe man links liegen lassen.
Seine Enkelin Kymiyah wird bald auf die High School wechseln, ihr will Reeves den Rückfall in überwunden geglaubte Zeiten ersparen. Was würde sie wohl sagen, wenn ausgerechnet 50 Jahre nach dem Mord an Martin Luther King die Uhrzeiger zurückgedreht werden? „Hinter all den Floskeln stehen rassistische Stereotype. Vorurteile, das ist alles, was sie antreibt“, sagt er über die Initiative.
Ein Berufungsgericht in Atlanta, zuständig auch für den Bundesstaat Alabama, hat es genauso gesehen. Der Vorstoß widerspreche dem Verbot der Rassendiskriminierung, urteilte es im Februar. Im März erklärte der Bürgermeister von Gardendale, dass man den Richterspruch akzeptiere und nicht vor den Supreme Court in Washington ziehen werde.
Ricky Reeves lebt in North Smithfield. Hier ist der schwarze Mittelstand zu Hause. Zum Beispiel Curtis Hammond. Er war Ingenieur in einem Walzwerk und einst einer der ersten Afroamerikaner, die auf die High School von Gardendale gingen, vor 48 Jahren. Von einer schwarzen Schule auf eine weiße zu wechseln, erinnert er sich, „das war, als hättest du unter einer Brücke geschlafen und würdest in eine Villa umziehen“. Sein bester Freund sei ein Weißer gewesen, sie hätten bis heute Kontakt. Nur ändere das nichts an den alten Dämonen des Südens, schiebt er skeptisch hinterher. „Diese Ich-schaue-auf-dich-herab-Mentalität, sie ist noch lange nicht tot.“