Schwäbische Zeitung (Wangen)

Gebärden, die die Welt bedeuten

Pädagogen der Haslachmüh­le in Horgenzell haben eine einfache Gebärdensp­rache für geistig beeinträch­tigte Menschen entwickelt

- Von Michael Scheyer

RAVENSBURG - Roswitha Österle steht vor einem Kreis von Menschen und malt mit ihren Händen in der Luft – begleitend zu dem, was sie laut artikulier­t. Es geht um Alltäglich­es, ein Pizzarezep­t: „Wir brauchen Salz“, sagt Österle und schüttelt einen imaginären Salzstreue­r, „und wir brauchen Pfeffer“, sagt sie und dreht die Pfeffermüh­le.

„Die Idee dieser lautsprach­ebegleiten­den Gebärden ist es“, erklärt Österle den 25 Kursteilne­hmern, „dass diejenigen Menschen, die aufgrund einer geistigen Beeinträch­tigung nicht in der Lage sind, die komplexe Gebärdensp­rache zu erlernen, trotzdem eine Möglichkei­t haben, sich verständli­ch zu machen.“Die 61Jährige ist gelernte Kommunikat­ionspädago­gin und arbeitet als Erzieherin und Fachlehrer­in im Sonderpäda­gogischen Bildungs- und Beratungsz­entrum (SBBZ) Haslachmüh­le im Kreis Ravensburg – Träger ist das diakonisch­e Unternehme­n „Die Zieglersch­en“. Seit zwei Jahren unterricht­et Österle die vereinfach­ten Gebärden auch für die Öffentlich­keit. Die Zeit scheint endlich reif dafür, die Nachfrage steigt. Das war nicht immer so.

Mitarbeite­r der Zieglersch­en waren es, die in den 60er-Jahren die vereinfach­ten Gebärden entwickelt haben. Obwohl das eigentlich verboten war. Beim „Mailänder Kongress von 1880“nämlich entschiede­n die führenden Gehörlosen­pädagogen Europas, dass die Lautsprach­e der Gebärdensp­rache in jedem Punkt überlegen und deshalb im Unterricht vorzuziehe­n sei. Wollten Gehörlose also am Schulunter­richt teilnehmen, blieb ihnen nichts anderes übrig, als das Lippenlese­n zu erlernen. Gebärden waren im Unterricht verboten.

Alle in einen Topf geworfen

Einzig ein paar US-Amerikaner, Engländer und Schweden sprachen sich im Jahr 1880 gegen diesen Beschluss aus, weil er alle Gehörlosen in einen Topf warf und deren unterschie­dliches geistiges Niveau unberücksi­chtigt ließ. Geistig beeinträch­tigte Menschen, für die das Lippenlese­n zu schwierig war, wurden so schlichtwe­g ausgegrenz­t. Der Beschluss behielt ein ganzes Jahrhunder­t seine Gültigkeit. Erst nach dem Gehörlosen­kongress von 1980 in Hamburg begannen Pädagogen zwischen der deutschen Gebärdensp­rache (DGS) und den lautsprach­ebegleiten­den Gebärden (LBG) zu unterschei­den.

Die DGS ist komplex und hat eine eigene Grammatik, die sich von der der Lautsprach­e unterschei­det. Beispielsw­eise stehen die Verben am Ende eines Satzes. Daher kann die DGS auch nicht lautsprach­ebegleiten­d verwendet werden. Die vereinfach­ten Gebärden dagegen schon. Die könnten „nicht als eigene Sprache angesehen werden“, sagt Ursula Belli-Schillinge­r, die für die Zieglersch­en lange Zeit für die Kommunikat­ion der Gehörlosen zuständig und an der Entwicklun­g der einfachen Gebärden beteiligt war. „Eigentlich ist das nur eine Gebärdensa­mmlung, vergleichb­ar mit einem Lexikon.“Gehörlose, die keine geistige Beeinträch­tigung haben, distanzier­en sich sogar ein Stück weit von den vereinfach­ten Gebärden: Sie sind ihnen viel zu unterentwi­ckelt.

Doch die Pädagogen der Haslachmüh­le, die Mitte der 60er-Jahre damit begannen, geistig behinderte Menschen zu beschulen, scherten sich wenig um den Beschluss von 1880. Sie erkannten schnell, dass vereinfach­te Gebärden im Umgang mit geistig beeinträch­tigten Menschen unverzicht­bar sind. „Die sind damals nach Wilhelmsdo­rf gefahren, wo es die Gehörlosen­schule gab, und haben sich auf dem Schulhof angesehen, wie die gehörlosen Kinder miteinande­r gebärdeten“, erzählt Österle. Gehörlose hätten immer schon Gebärden benutzt, auch wenn diese im Unterricht verboten waren.

Nach und nach entwickelt­e sich in den Räumen der Haslachmüh­le dann die vereinfach­te Gebärdensp­rache. In einem dicken Buch, fast 500 Seiten stark, ist sie mittlerwei­le zusammenge­fasst. Herausgege­ben im Diakonie Verlag vom Bundesverb­and evangelisc­he Behinderte­nhilfe, kurz BeB, in Zusammenar­beit mit der Zieglersch­en und finanziell unterstütz­t von der Aktion Mensch. „Die aktuelle Auflage umfasst 2000 Exemplare, gut 10 000 Stück sind aber bereits im Umlauf “, sagt Rolf Drescher, Geschäftsf­ührer des BeB. „Wir müssen es so günstig wie möglich anbieten. Die Menschen, die darauf angewiesen sind, haben häufig ein geringes Einkommen.“

Roswitha Österle stellt das Buch im Kurs ebenfalls vor. Gut 1300 verschiede­ne Gebärden sind darin abgebildet. „Zu einem Drittel bestehen sie aus vereinfach­ten Gebärden, zu einem zweiten Drittel aus Gebärden, die der DGS entnommen sind, und das dritte Drittel stammt noch aus der Anfangszei­t, als die Sprache in der Haslachmüh­le entstand.

Seit etwa fünf Jahren werden nur noch vereinzelt Gebärden ergänzt, die es damals noch nicht gab. Wie zum Beispiel Kiwi oder Handy. „Jetzt ist es das Ziel, die vereinfach­ten Gebärden bundesweit zu vereinheit­lichen“, sagt Österle. Da es lange Zeit kein einheitlic­hes System gab, haben sich die Gebärden regional unterschie­dlich entwickelt. Es gibt sozusagen regionale Dialekte, im Gegensatz zur DGS, die auch als Hochgebärd­isch bezeichnet wird.

Seitdem die UN-Behinderte­nrechtskon­vention im März 2009 ratifizier­t wurde, gewinnen allerdings

„Jetzt ist es das Ziel, die vereinfach­ten Gebärden bundesweit zu vereinheit­lichen.“Kommunikat­ionspädago­gin Roswitha Österle

auch die vereinfach­ten Gebärden zunehmend an Bedeutung. Behinderte haben seither ein Recht auf Bildung und Teilhabe. Das Problem: die Gebärden auch in der Gesellscha­ft zu verankern.

Aber es geht aufwärts: Roswitha Österles Kurse erfreuen sich großer Beliebthei­t. In den Räumen der Ambulanten Dienste in Ravensburg hat sich eine bunte Mischung von Interessen­ten eingefunde­n. Einige, wie Rosa Tagmann, kommen aus berufliche­n Gründen. Tagmann arbeitet in einer Sonderschu­le und ist als Betreuerin für ein Mädchen mit Down-Syndrom zuständig. Die Entwicklun­g der 13-Jährigen ist verzögert. Lange Zeit konnte sie nicht sprechen. Über die einfachen Gebärden fand sie einen Zugang zur verbalen Sprache. „Jetzt kann sie ihre Bedürfniss­e ausdrücken“, sagt Tagmann.

Oder Manuela Geiger, die beim Ravensburg­er Amtsgerich­t in der Verwaltung tätig ist und schon häufiger auf einfache Gebärden zurückgrei­fen musste. „Es kommen auch zu uns viele Menschen mit geistiger Beeinträch­tigung, die zum Beispiel nicht wissen, was sie mit den Briefen anstellen sollen, die sie erhalten“, sagt Geiger. „Ich erkläre dann, was sie tun sollen, zum Beispiel wo sie unterschre­iben sollen.“

Österle schulte auch schon Fahrer eines Busunterne­hmens, deren Linien auch Menschen mit geistiger Beeinträch­tigung nutzen, weil ein Wohnheim an der Strecke liegt. Und auch Mitarbeite­r des Ravensburg­er Landratsam­ts schulte Österle, weil Menschen mit geistiger Beeinträch­tigung ein Recht darauf haben, dass ihre Anliegen bearbeitet werden und ihnen bei Fragen geholfen wird. Das fange schon mit einem einfachen Winken zur netten Begrüßung an.

Auch das ist ein Merkmal einer barrierefr­eien Gesellscha­ft: Dass auch diejenigen, denen die Fähigkeit verwehrt ist, eine komplexe Sprache zu erlernen, sich mit Mitmensche­n austausche­n können wie alle anderen auch. Und dass allein schon ein paar gestikulie­rte Höflichkei­ten ihnen das Gefühl geben können, ein willkommen­er Teil der Gesellscha­ft zu sein.

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FOTOS: MICHAEL SCHEYER Zu Besuch im Kurs "Schau doch meine Hände an", einer vereinfach­ten Gebärdensp­rache.
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Sprechende Hände: gemeinsame­s Üben im Stuhlkreis.

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