Hauptsache Narrativ
Wenn man ein Buch schreibt, kann man bei den Charakteren alles anders machen, als es bei einem selbst war.“Dieser Satz stand dieser Tage in unserer Zeitung, und es ist anzunehmen, dass etliche Leser nicht auf Anhieb begriffen, was hier mit gemeint war. Unter verstehen wir in der Regel die Gesamtheit der geistigseelischen Eigenschaften eines Menschen, seine Wesensart. Ein Mensch kann einen guten haben oder einen schlechten. Er kann aber auch ein – nach dem Muster: Einen bestimmten also unverwechselbare, typische Eigenschaften, kann aber auch ein Volk haben, eine Landschaft, ein Bauwerk, ein Musikstück etc. Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutungen und Schreibweisen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.
Um all das ging es aber nicht im obigen Satz. Was wir hier erleben, ist wieder einmal die heimliche Einbürgerung eines Fremdworts aus dem Angloamerikanischen. Während der Große Fremdwörterduden von 2007 das Wort in dieser Bedeutung noch nicht kennt, liefert Duden online die Erklärung: Unter (englisch
versteht man heute auch eine Person, eine Figur in einem Roman oder einem Film. Bei der Dominanz der US-Film- und TV-Produktionen kann dieser Import nicht verwundern. Und wenn sich Leute über die verschiedenen Rollen in Computerspielen unterhalten, bekommt man auch mit, dass nicht der gute, alte gemeint sein kann. Die sagen nämlich … Über einen anderen Import aus dem Englischen lässt sich ebenfalls trefflich streiten: das das sich bei uns geradezu epidemisch vermehrt hat. Hier ist sowohl im Großen Fremdwörterduden als auch bei Duden online noch Fehlanzeige.
von lateinisch (erzählen) – taucht dort nur als Adjektiv auf
Die Vorgeschichte: Um 1980 suchten englischsprachige Geisteswissenschaftler ein griffiges Wort, um den philosophischen Begriff des französischen Vaters der Postmoderne, Jean-Francois Lyotard, zu übersetzen. So wurde das Substantiv
(Erzählung) zur aufgeblasen, im Sinn von
so die Definition des Oxford Dictionary. Der Zusatz fiel irgendwann weg.
Wäre die deutsche Version im Zirkel der Philosophen, Theologen, Politologen, Soziologen und Literaturtheoretiker verblieben, so hätte man ja nichts dagegen. Aber ist längst zu einem schwammigen, wichtigtuerischen Modewort verkommen – als Synonym für irgendetwas in Richtung Sinnstiftung. Alles hat ein oder sollte zumindest eines haben: die EU, die Kanzlerin, die Bergpredigt, die Migration, die Homöopathie, die Mütterlichkeit, die Impfbereitschaft, die Möbelbranche … Wer es nicht glaubt, muss nur mal kurz im Internet stöbern. Das Wort nicht zu verwenden, zeugt mittlerweile von Charakter.
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