Das Schlaraffenland liegt in Oberitalien
In der Region Friaul-Julisch Venetien sind Genussmenschen gut aufgehoben
Vieles im Leben ist Timing, wie das auf Neudeutsch heißt. Also das Talent oder auch das Glück, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Dass das Timing stimmt an diesem späten Mittwochnachmittag im Frühling, als wir da oben stehen im Schlosshof des Castello di Udine und den Blick schweifen lassen, ist sonnenklar – im wahrsten Sinn des Wortes. Wie flüssiges Gold senkt sich das schwindende Sonnenlicht in der noch winterkalten Luft über die Gipfel der Julischen und Karnischen Alpen im Norden, ein Licht von überwältigender Schönheit.
Zu Besuch bei Nonino
Es wäre naheliegend, die durch den Ausblick hervorgerufenen Emotionen auf den vorhergehenden Besuch der Grappa-Brennerei Nonino in nahen Percoto zurückzuführen, aber dafür war die Dosis des Traubentresters dann doch nicht hoch genug, die uns bei der Verkostung in den feudalen Räumlichkeiten dieser weltweit bekannten italienischen Institution der Schnapsgewinnung verabreicht wurde. Aber es stimmt schon: Wohl nirgends auf der Welt gehen Hochkultur und Hochgenuss eine innigere Beziehung ein als in Oberitalien. Und Friaul-Julisch Venetien, wie die östlichste, an Slowenien grenzende italienische Region offiziell heißt, kann sich in dieser Hinsicht mit bekannteren Regionen wie der Toskana oder dem Piemont allemal messen.
Der erste Eindruck hoch oben vom Schloss gibt gleich den Takt vor: Die Erkundung von Kultur, Geschichte und der nicht minder grandiosen Natur dieses gesegneten Landstrichs zwischen Alpen und Adria ist stets verwoben mit der Erkundung der durchaus ebenbürtigen kulinarischen Genüsse. Auch da hat das Friaul jede Menge Tradition zu bieten. Die Destillerie Nonino beispielsweise feierte im Vorjahr ihr 120-jähriges Bestehen und zählt damit zu den ältesten Brennereien in Italien.
Per pedes nach Triest
Wesentlich älter und für die ganze Welt viel bedeutender als Grappa ist der Stoff, der im eine halbe Autostunde entfernten Triest hergestellt wird. Die offizielle Hauptstadt ist mit ihren rund 200 000 Einwohnern die größte Stadt der Region und verfügt im Gegensatz zu Udine, das viele der 100 000 Einwohner für die heimliche Hauptstadt halten, über einen Seehafen. Wenn man Kaffee produzieren will, ist das kein Fehler, denn das braune Gold, das aus aller Welt per Schiff angeliefert wird, muss zügig verarbeitet werden, soll es seine volle Pracht entfalten. Das garantiert in Triest das 1933 gegründete Unternehmen Illy, das Besuchern aus der ganzen Welt Führungen durch seine Fabrik im Industriegebiet am Hafen anbietet. Nahezu jeden Tag im Jahr werden dort aus 1600 Jutesäcken voll Kaffeebohnen 90 Tonnen hundertprozentiger Arabica produziert – die edelste aller Kaffeesorten. Mit dem besten Espresso der Welt lässt sich der Tag aufs Vorzüglichste strukturieren.
Nach Triest vorgearbeitet haben wir uns übrigens auf einer ersten kleinen Wanderung über den „Sentiero de Rilke“. Auf diesem Weg über karstiges Gestein hoch über der Meeresküste hat man einen fabelhaften Blick auf Schloss Duino, das einst der Fürstenfamilie Thurn und Taxis gehörte. Dort wohnte einst auch der Dichter Reiner Maria Rilke, nach dem der Panoramaweg nach Sistiana benannt wurde. Von dort ist es nur noch ein Katzensprung zum Schloss Miramare, einem weißen Sandsteinbau direkt am Meer, der zwischen 1856 und 1860 für Erzherzog Ferdinand Maximilian von Österreich, den Bruder Kaiser Franz Josephs I., und seine Gattin Charlotte von Belgien erstellt wurde.
Auch im fünf Kilometer entfernten Triest ist das habsburgische Erbe allgegenwärtig. Bis 1918 gehörte Triest zu Österreich und galt als „das kleine Wien am Meer“. Hier kreuzen sich Sprachen, Völker und Religionen, hier ringt die mitteleuropäische mit der mediterranen Seele. Wenn nicht alles vom Wind verblasen wird. Denn Triest wird auch die „Stadt der Winde“genannt, weil die Bora zuweilen mit 120 Stundenkilometern durchfegt. Beim Abstieg vom Kastell San Giusto, das zwischen 1471 und 1630 erbaut wurde und das Herz des alten Triest war, zum schönsten Platz der Stadt, der Piazza Unità d’Italia, bekommen wir hin und wieder eine leichte Vorstellung davon, wie unangenehm dieser Wind sein kann.
Von ganz unten geht es ein paar Hundert Meter hinauf auf die Hochebene, nach Opicina. Mit dem Bus, weil die Straßenbahn mit Elektroantrieb, die auf einem Streckenabschnitt zur Seilbahn wird, gerade nicht fährt. Der einstündige Fußmarsch von der Haltestelle Obelisk bis zum Dorf Prosecco (nein, es ist nicht die Heimat des gleichnamigen Perlweins) beschert dem Wanderer grandiose Ausblicke auf die Stadt und den Golf von Triest.
Wandern ist auch das große Thema des nächsten Tages, achteinhalb Kilometer mit steilsten An- und Abstiegen durch die Colli Orientali direkt an der slowenischen Grenze, einem von neun Weinanbaugebieten der Region. Den weißen Friulaner zählen Kenner seit Langem zu den besten Gewächsen Italiens, und beim roten holen die rund 1500 Winzer, die viele nur hier heimische Rebsorten pflegen, gerade mächtig auf. Die italienische Lebensart hat ja auch morgens nichts einzuwenden gegen ein Gläschen Wein, aber angesichts des ambitionierten sportlichen Ansatzes des Fußmarsches bleibt unser Picknick trocken.
Schinken und Käse
Kein Problem, denn unser äußerst unterhaltsamer Reiseleiter Ralph Krüger ist dem Feld der Kulinarik genauso zugetan wie der Literatur, Kunst und Geschichte. Er hat San Daniele eingekauft, einen der weltbesten Schinken aus dem gleichnamigen Ort nahe Udine, und nicht minder schmackhaften heimischen Käse wie Montasio und Formadi Frant d’Alpeggio. Später in Cividale, der uralten Römerstadt, läuft Krüger angesichts des Tempietto Longobardo, einem der wichtigsten und am besten erhaltenen architektonischen Zeugnisse der langobardischen Epoche, wieder zu Höchstform auf. Dann sagt der 49-Jährige aus Potsdam nach ausführlichster Unterrichtung in erlesenster Akzuentierung Sätze wie: „Bitte verzeihen Sie, dass ich mich nicht darauf einlasse. Ich könnte vier Stunden ohne Punkt und Komma darüber reden.“
Uns geht es ähnlich. Noch haben wir nämlich kein Wort verloren über die alte Römersiedlung Aquileia, die venezianische Pracht der Piazza Libertà in Udine, die Seebäder Grado und Lignano, über Furlan, die Sprache der Einheimischen, über das schreckliche Erdbeben von 1976 oder über Italo Svevo, den führenden italienischen Romanautor des 20. Jahrhunderts aus Triest. Drei Tage sind einfach zu kurz; nicht einmal einer wie Ralph Krüger kann da alles loswerden.