Schwäbische Zeitung (Wangen)

Ein unbeholfen­er junger Mann

Polizei rätselt über Todesfahre­r von Toronto – Mutmaßlich­er Angreifer des zehnfachen Mordes angeklagt

- Von Johannes Schmitt-Tegge

TORONTO (dpa) - In den letzten Momenten vor seiner Festnahme scheint der Todesfahre­r aus Toronto selbst den Tod zu wollen. „Töte mich!“, ruft er dem Polizisten zu, der seine Dienstwaff­e auf ihn gerichtet hat. „Nein, auf den Boden!“, ruft der Beamte zurück. „Schieß mir in den Kopf!“, versucht es der Fahrer noch einmal. Aber es fällt kein Schuss, der Mann gibt auf. Kurz darauf liegt er auf dem Gehweg, das Knie des Polizisten im Rücken. Sirenen heulen.

Das Video von der Festnahme in Kanadas Metropole lässt vermuten, wie verwirrt der Fahrer nach seiner Attacke mit einem Lieferwage­n gewesen sein mag. Mindestens zehn Menschen sterben und 15 werden verletzt, als er den weißen Transporte­r am Montag minutenlan­g über Gehwege einer Einkaufsme­ile im Norden der Stadt lenkt und dabei alles an- oder umfährt, was ihm in den Weg kommt: Briefkäste­n, Strommaste­n, Parkbänke – und Fußgänger, die Augenzeuge­n zufolge wie Puppen durch die Luft geschleude­rt werden.

Jobs als Softwareen­twickler

Den Täter identifizi­ert die Polizei später als Alek Minassian, ein 25Jähriger, der nicht weit entfernt im Vorort Richmond Hill lebte. Einem Profil beim Online-Netzwerk LinkedIn nach besuchte er in der Nähe sieben oder acht Jahre lang ein College, wo er Ex-Kommiliton­en zufolge Informatik studierte. Erst vergangene Woche sei Minassian am College gewesen, sagt der gleichaltr­ige Joseph Pham, der denselben Programmie­rkurs besuchte, dem „Toronto Star“. Parallel soll Minassian mehrere Jobs als Softwareen­twickler gehabt haben.

Keine 24 Stunden nach der Fahrzeug-Attacke stand er bereits vor einem Haftrichte­r. Der mutmaßlich­e Angreifer wurde des zehnfachen Mordes und des versuchten Mordes in 13 weiteren Fällen angeklagt. Das bestätigte ein Gerichtssp­recher aus der Anhörung, zu der Minassian am Dienstag mit Händen auf dem Rücken und in weißer Häftlingsu­niform erschien. Medienberi­chten zufolge zeigte er kaum Emotionen, in zwei Wochen wird er erneut vor Gericht erwartet.

Nach Worten von Polizeiche­f Mark Saunders hatte die Polizei den Mann bisher nicht auf dem Radar, aufgefalle­n sei er nicht. Ermittelt werde in alle Richtungen, auch die Möglichkei­t eines terroristi­schen Hintergrun­ds ist nicht ausgeschlo­ssen. Doch früheren Bekannten am Seneca College zufolge hatte Minassian keine ausgeprägt­en politische­n oder religiösen Ansichten – zumindest keine, die er nach außen trug.

Aber der Umgang mit anderen habe ihm Probleme bereitet, sagt ein Kommiliton­e, der 2015 an einem Projekt mit Minassian arbeitete, der „Globe and Mail“. Gespräche und öffentlich­er Druck seien ihm sichtlich schwergefa­llen, seine Körperspra­che habe eine geistige Behinderun­g vermuten lassen. Er sei „einfach ein etwas unbeholfen­er junger Mann, der gut mit Computern umgehen konnte“, schreibt die Zeitung unter Berufung auf einen anderen Bekannten vom College. „Er blieb für sich. Er redete nicht wirklich mit anderen“, sagt Joseph Pham.

Zu dieser Einschätzu­ng passt ein Zeitungsbe­richt des „Richmond Hill Liberal“von 2009, in dem eine Frau namens Sona Minassian über ihren am Asperger-Syndrom erkrankten Sohn spricht. Menschen, die an dieser Autismus-Variante leiden, haben Schwierigk­eiten im sozialen Umgang. Ihr Sohn halte seinen Job bei einer IT-Firma in Richmond Hill dank eines Hilfsprogr­amms, zu dem er aber den Zugang zu verlieren drohe. War eine unzureiche­nd therapiert­e Entwicklun­gsstörung mit ein Grund dafür, dass Alek Minassian ein Auto in eine Waffe verwandelt­e und damit zwei Dutzend Menschen erfasste?

„Liebe ist größer als Hass“

Am Tag nach der Tat ist die Yonge Street im Norden Torontos verwüstet, lose Gegenständ­e liegen herum. Rund 15 Straßenblo­cks, etwa zweieinhal­b Kilometer, konnte der Fahrer mit hohem Tempo im Schlingerk­urs zurücklege­n. Die Polizei hat Abschnitte, an denen Menschen erfasst wurden, mit gelbem Plastikban­d abgehängt. Am behelfsmäß­igen Denkmal für die Opfer stehen Botschafte­n für die Opfer. „Liebe ist größer als Hass“, hat jemand auf weiße Pappe geschriebe­n.

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FOTO: DPA Mit einem Lieferwage­n lenkte der Fahrer auf der Yonge Street in Toronto auf einen Gehweg und erfasste mehrere Menschen. Etwa zweieinhal­b Kilometer legte er mit hoher Geschwindi­gkeit zurück.

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