Schwäbische Zeitung (Wangen)

Vergeblich gestreckt

Timo Boll ist „all in“, führt Düsseldorf zu Titel Nr. 71 und vertröstet die TTF Ochsenhaus­en auf die Zukunft

- Von Jürgen Schattmann

FRANKFURT - Am Ende, als alles entschiede­n schien zugunsten von Borussia Düsseldorf, spielte sich ein seltenes Drama ab in der Frankurter FraportAre­na, eines jener Dramen, die die Menschen lieben und die der Grund sind, warum sie Sportlern bei ihrer Arbeit zuschauen. Timo Boll fehlte noch ein Pünktchen zum nächsten Dreisatzsi­eg über einen Ochsenhaus­ener, diesmal gegen Hugo Calderano, doch der Brasiliane­r wehrte sich, er weigerte sich schlicht, aufzugeben; fünfzehn Minuten lang wirkte dieses Tischtenni­sspiel wie ein Nahkampf zweier Boxer. Immer wieder steckte der 21-Jährige vom 16 Jahre älteren Boll Schläge ein, die jeden anderen vernichtet hätten. Bolls fast irrsinnig schnelle Kontra-Attacken mit der Vorhand nämlich. Und immer wieder schlug Calderano zurück, mit wahnwitzig­en Returnwinn­ern, für deren Trotz und Kühnheit es kaum Worte gibt. Es war wie im Krieg in dieser gefühlt 40 Grad heißen, subtropisc­h feuchten Arena, in jedem Fall war es ein Nervenkrie­g – den dieser hinreißend tapfere Jüngling aus der Tischtenni­sdiaspora Südamerika schließlic­h verlor. Nach dem neunten Matchball gegen sich musste Hugo Calderano kapitulier­en, natürlich unfreiwill­ig, mit 6:11, 13:15, 17:19. Er wurde nicht zum Hero de Janeiro, aber irgendwie war er es doch.

Boll sagte hinterher einem Vertrauten, er sei sich sicher, er hätte das Spiel noch verloren, hätte er diesen Satz verloren. So aber hatte der 37-Jährige Düsseldorf die fünfte Meistersch­aft in Serie, das dritte Triple und den 71. Titel insgesamt gesichert – und sich selbst die zehnte Teammeiste­rschaft. Keine Frage: Boll sammelt Erfolge wie Eichhörnch­en Nüsse – mit einer Natürlichk­eit, die nur noch staunen macht.

„Klar macht uns das stolz, dass wir nun 71 Titel haben, einen mehr als der FC Bayern. Wir haben es ja genauso schwer, alle versuchen das doch“, sagte Borussen-Manager Andreas Preuß danach, aber dieser Vergleich hinkt. Denn während ein Fußballtea­m 25 Spieler braucht, um solche Seriensieg­e zu schaffen, reicht Düsseldorf seit elf Jahren ein Timo Boll in Glanz- oder Normalform. Ein Ausnahmesp­ieler, der fast immer zwei von drei Punkten macht und damit nicht nur die halbe Miete ist, sondern die ganze.

Ochsenhaus­ens Coach Dubravko Skoric, als Trainer der ChampionsL­eague-Rekordsieg­er, verneigte sich am Tag danach vor dem Star: „Timo war unglaublic­h. Er war mal wieder ,all in’, wie man beim Poker sagt. Er kann auch nur ,half in’ sein. Er kann zwischen wichtigen und unwichtige­n Spielen trennen und sich fokussiere­n wie kein Zweiter. Ich sah schon vor ein paar Tagen auf Bildern vom Training, wie seine Augen brannten, wie er im Tunnel war. Da wusste ich: Er ist all in, das wird schwer für uns.“

Ein Boll in Trance

Ein Boll in Trance, das war für Skoric’ Spieler tatsächlic­h noch zu viel, für die Rasselband­e der TTF-Akademie, die davon geträumt hatte, in ihrem ersten Finale gleich den großen Coup zu landen. Calderano und Simon Gauzy hatten Boll ja schon öfter geschlagen – allerdings den half-in-Boll. Diesmal war der Weltrangli­stendritte zu stark für sie. Calderano hatte die TTF mit einem 3:1 (10:12, 11:8, 11:8, 11:7) gegen seinen künftigen Teamkolleg­en Stefan Fegerl aus Österreich in Front gebracht, danach aber hatte Gauzy beim 7:11, 6:11, 7:11 nicht den Hauch einer Chance gegen Boll. Calderano war nach einem 2:10-Fehlstart auf Augenhöhe mit dem Rekordeuro­pameister gewesen, Skoric adelte ihn ausdrückli­ch: „Hugo hat exzellent gespielt, er ist ein warrior, ein leidenscha­ftlicher Krieger, der nicht aufgibt. Er wollte Timo diesen letzten Punkt nicht geben, alles in ihm hat sich gegen das Verlieren aufgelehnt und gesträubt. Er ist ein Vorbild an Kampf“, sagte der Kroate.

Der Portugiese Joao Geraldo, die Nr. 3 der TTF, vergoss dagegen bittere Tränen nach der Partie. 11:8, 11:8 hatte er im dritten Einzel, oft und so auch diesmal das Schlüssels­piel, gegen den Schweden Kristian Karlsson geführt, dann brach er völlig ein und verlor noch mit 1:11, 4:11, 6:11. „Karlsson hat die Taktik umgestellt, ich kam mit seinen Aufschläge­n nicht klar und habe die Kontrolle verloren“, sagte der 22Jährige. „Das Finale war für mich eine ungewohnte Situation, ich habe alles gegeben, aber zu wenig Erfahrung in solchen Matches.“Die könnte sich Geraldo nun nach vier Jahren TTF in Angers (Frankreich) aneignen. „Er hat Power, er war unser muscle-man. Aber er muss lernen, im Spiel Auswege und neue taktische Lösungen zu finden“, sagte Skoric, der allerdings wie Kristijan Pejinovic stolz auf die Spieler war: „Man muss sehen, wo wir herkommen“, sprach der TTF-Präsident. „Wir hatten eine unglaublic­h harte Saison mit vielen Verletzten, mussten sogar lange um die Play-offs zittern. Wir wollten einen Titel, am Ende standen wir in einem Finale und in zwei Halbfinals. “Und in dem einen, jenem der Champions League, hatten die TTF den späteren Sieger Düsseldorf immerhin am Rand der Niederlage.

Das weiß auch Timo Boll, der sich nach dem Triumph noch demütiger gab als üblich. „Wir sind heilfroh, dass es für uns noch einmal zum Titel gereicht hat“, sprach der, der nur ein Einzel in dieser Bundesliga­saison verlor. „Ochsenhaus­en hat eine junge Mannschaft, sie werden uns in den nächsten Jahren einen heißen Kampf liefern. Vielleicht war das heute sogar unser letzter Titel“, sagte Boll, aber das dürfte auch ein wenig Koketterie gewesen sein. Skoric jedenfalls weiß: „Timo kann noch drei Jahre auf diesem Niveau spielen.“Ochsenhaus­en wird sich also noch mehr strecken müssen.

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FOTO: ROSCHER „Muscle man“, aber nach einer 2:0-Führung gegen Kristian Karlsson auch der tragische Verlierer der Ochsenhaus­ener: Joao Geraldo.
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FOTO: DPA Wenn der Schläger zur Pistole wird: Timo Boll jubelt.

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