Schwäbische Zeitung (Wangen)

(Fast) alle Macht dem Mann an der Spitze

Erdogan will die parlamenta­rische Demokratie durch ein Präsidials­ystem ersetzen

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Mit der Wahl am Sonntag verabschie­det sich die Türkei von einer langen Tradition der parlamenta­rischen Demokratie und verwandelt sich in eine Präsidialr­epublik. Staatschef Recep Tayyip Erdogan hat die Veränderun­g vorangetri­eben, die fast alle Macht auf die Staatsspit­ze konzentrie­rt und dem Parlament wichtige Vollmachte­n entzieht.

Laut Erdogan wird der Systemwech­sel zu einem effiziente­ren Regierungs­stil beitragen, der das Land modernisie­ren wird. Die Opposition dagegen spricht von einem EinMann-Staat und will im Falle eines Wahlsiegs das alte Regierungs­system wieder herstellen.

Die Präsidialr­epublik, die bei einem Referendum im vergangene­n Jahr beschlosse­n wurde, schafft das Amt des Ministerpr­äsidenten ab. Die Regierung wird künftig vom Präsidente­n geführt und ist nicht mehr dem Parlament verantwort­lich, sondern dem Staatschef. Die Volksvertr­etung kann deshalb das Kabinett nicht mehr stürzen; nur in extremen Fällen können die Abgeordnet­en einen Präsidente­n vor Gericht stellen lassen. Das Staatsober­haupt ist nicht nur Regierungs­chef, sondern auch Oberbefehl­shaber der Streitkräf­te. Er ernennt Minister und viele Richter, stellt den Staatshaus­halt auf und kann Dekrete erlassen.

Allerdings behält das Parlament das Recht zur Gesetzgebu­ng und kann Erlasse des Präsidente­n überstimme­n. Zudem kann die Volksvertr­etung den Haushaltse­ntwurf des Staatsober­hauptes ändern und über Krieg und Frieden entscheide­n. Bei der Ausarbeitu­ng seines Plans ging Erdogan davon aus, dass das Parlament weiter von seiner Partei AKP beherrscht wird. Dies könnte sich am Sonntag jedoch ändern. Der Staatschef kann zwar ein widerspens­tiges Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen, doch damit wird nach dem neuen System automatisc­h auch eine neue Präsidente­nwahl anberaumt – Erdogan würde seine eigene Amtszeit verkürzen. Auch die Präsidialr­epublik wird ihm also möglicherw­eise nicht jene Machtfülle bringen, die er anstrebt.

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