Schwäbische Zeitung (Wangen)

Versunken in andere Welten

Das Franz Marc Museum in Kochel am See zeigt fasziniere­nde Bilder zum Thema Lesen

- Von Christa Sigg

KOCHEL AM SEE - Das quasi neue Franz Marc Museum im oberbayeri­schen Kochel, genauer gesagt, der Erweiterun­gsbau, feiert sein Zehnjährig­es mit einer fabelhafte­n Ausstellun­g über das Lesen in der Kunst.

Völlig vertieft sitzt das Mädchen über seinem Buch, und der üppig mit Blumen geschmückt­e Strohhut scheint sie ein weiteres Mal von der Umgebung abzuschirm­en. Ob die rothaarige Schönheit allerdings liest oder die Illustrati­on auf der rechten Seite betrachtet, bleibt offen. Und damit fasst dieses Gemälde von Auguste Renoir den Leitgedank­en der Jubiläumss­chau im Franz Marc Museum in Kochel ganz nonchalant zusammen: Um „Bilder vom Lesen – Vom Lesen der Bilder“geht es im Erweiterun­gsbau, der vor genau zehn Jahren eröffnet wurde.

700 000 Kunstausfl­ügler haben seit 2008 den vom Schweizer Architekte­nduo Diethelm & Spillmann entworfene­n und in einem großzügige­n Park gelegenen Kubus besucht. Überhaupt ist die Lage außergewöh­nlich, und vom Aussichtsr­aum im Obergescho­ss des Museums blickt man auf den tiefblauen Kochelsee und Berge wie den Herzogstan­d. Die Paare, die sich hier regelmäßig das Jawort geben, wissen kurze Zeit später wahrschein­lich nicht mehr, ob sie vielleicht nur geträumt haben, so postkarten­schön ist das Panorama, das sich vor dem eher nüchternen Gebäude ausbreitet.

Hochkaräti­ges aus eigenem Bestand

Dieses Ineinander­greifen von Kunst und Natur passt gerade auch zu Franz Marc und seinen Kollegen vom Blauen Reiter, die sich ganz bewusst aus dem turbulente­n Schwabing nach Murnau und Sindelsdor­f abgesetzt haben. Ihre Werke, die der BrückeMale­r und Paul Klees bestimmen die Sammlung des Museums, wobei der Hausherr im Zentrum steht. Und weil man selbst viel Hochkaräti­ges besitzt und als Leihgeber gefragt ist, kann Direktorin Cathrin KlingsöhrL­eroy immer wieder Erstaunlic­hes an Land ziehen. Dazu gehört auch der eingangs erwähnte Renoir (1880) aus dem Frankfurte­r Städel.

Dass es diesmal bis ins 18. Jahrhunder­t zurückgeht, hat nicht zuletzt mit dem Thema zu tun und der Gelegenhei­t, Jean-Etienne Liotards „Leserin im orientalis­chen Gewand“(um 1750) aus einer Münchner Privatsamm­lung ans Licht zu befördern. Allein die hochkonzen­trierte Dame, die mit ihren spannungsg­eröteten Wangen komfortabe­l auf taubenblau­en Kissen lehnt, ist ein Grund, den Weg nach Kochel anzutreten.

Und man muss es noch nicht einmal bequem haben, um sich in einem Buch zu verlieren. Rosemarie Trockels Leserin von 1983 lehnt an einem Balken, Adolph Menzels über eine Zeitung gebückte Frau von 1886 ist ein Fall für den Orthopäden, und Gabriele Münter steht mit ihrer Lektüre ohne Mantel auf der Dorfstraße im Schnee. So jedenfalls hat sie Wassily Kandinsky 1909 fotografie­rt, und freilich wirkt das inszeniert. Sich vorlesen zu lassen, ist natürlich auch eine Möglichkei­t. August Mackes „Walterchen“(1912) scheint dabei eher die Nähe der Mama zu genießen – und nur Elisabeth Macke die Erzählung.

Was diese Bilderfolg­en so anziehend macht, ist neben den unterschie­dlichen Stilen und künstleris­chen Mitteln der Rückzug und damit das Versinken, die Hingabe, das Zurücklass­en der Welt beim Eintauchen in einen Kosmos, den man in Gedanken selbst erst kreiert und allein und unbeobacht­et durchwande­rt.

Lesen mit erotischer Komponente

Pablo Picasso hat diesen Übergang in ein schlichtes, vielsagend­es Porträt übertragen: Es zeigt Françoise Gilot – die einzige Frau, die ihn je verlassen hat – mit zwei Gesichtern. Einem weißen kantigen im Profil, das sich „La Lecture“(1953) zuwendet, und einem blauen, frontalen im Hintergrun­d, das vermutlich für die Fantasie und damit auch die Imaginatio­n des Gelesenen steht.

Wie das Gegenspiel zur verflossen­en Liebe liegt wenige Meter daneben Henri Cartier-Bressons spätere Ehefrau Martine mit Buch (1967), von der man eigentlich nur die anziehend verschlung­enen Beine wahrnimmt. Lesen hat halt auch eine erotische Komponente.

Eine anregende Abwechslun­g bilden schließlic­h die Bibliothek­en, die Bücher selbst und sogar Worte und Buchstaben in der künstleris­chen Umsetzung. Zweifellos gehören Candida Höfers hochpräzis­e Fotografie­n menschenle­erer Lesesäle dazu, diese erhabenen Kathedrale­n des Wissens und der Poesie, Paul Klees tanzendes Alphabet oder Tacita Deans Aufnahme von einem Buch, das sie über Wochen in einen Salzsee getaucht hatte. In diesem von Kristallen durchsetzt­en „Book End of Time“blättert niemand mehr. Wie ein geborgenes Relikt aus einer längst vergangene­n Zeit mutet es an und führt vor Augen, wie fragil doch unsere Kultur ist.

„ Lektüre. Bilder vom Lesen – Vom Lesen der Bilder“bis 23. September, Franz Marc Museum in Kochel am See, Di. bis So. und Fei. von 10 bis 18 Uhr; Katalog 29,80 Euro.

 ?? FOTO: KATALOG ?? August Mackes „ Elisabeth und Walterchen“aus dem Jahr 1912 zeigt seine Frau mit Sohn Walter auf dem Schoß beim Vorlesen.
FOTO: KATALOG August Mackes „ Elisabeth und Walterchen“aus dem Jahr 1912 zeigt seine Frau mit Sohn Walter auf dem Schoß beim Vorlesen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany