Schwäbische Zeitung (Wangen)

Mit der „Mentalität von elf Kriegern“zur Wende

Sotschi soll nach Samstag nicht in einer Reihe mit Cordoba und Gijón stehen – Wut hat bei der DFB-Elf schon oft positive Energie freigesetz­t

- Von Patrick Strasser

SOTSCHI - Es sind nicht die großen Fußballmet­ropolen, sondern kleinere Städte, die für historisch­e Dramen der deutschen WM-Geschichte stehen. Cordoba 1978 mit dem peinlichen 2:3 gegen Österreich. Oder Gijón 1982 mit dem Nichtangri­ffspakt gegen Österreich sowie Lyon 1998 als Kroatien die DFB-Elf im Viertelfin­ale mit 3:0 nach Hause schickte.

Reiht sich in diese Aufzählung der Schande am Samstagabe­nd „Sotschi 2018“?

Der Kurort am Schwarzen Meer, der in den letzten Tagen dank seiner kilometerl­angen Strandprom­enade Fans, Spieler sowie Bundestrai­ner Joachim Löw zum Flanieren, Sonnen und Baden einlud, könnte künftigen Generation­en als Synonym für das Scheitern der Weltmeiste­r von 2014 dienen. Bei einer Niederlage im zweiten Gruppenspi­el gegen Schweden (20 Uhr, ARD und Sky) und einem Erfolg der Mexikaner wenige Stunden zuvor gegen Südkorea droht dem DFB-Team das Undenkbare: Chancenlos auf die K.o.-Runde nach zwei Partien, kein Super-, eher ein Mega-GAU. Historisch schlecht. Das ohnehin irgendwie dämlich-nichtssage­nde, aber immerhin selbstbe- wusst daherkomme­nde Motto der Titelverte­idiger „Best Never Rest“würde ihnen im vorzeitige­n Urlaub pausenlos in den Ohren klingeln.

„Wir haben keinen Joker mehr. Wir haben sechs K.o.-Spiele“

Doch warum zweifeln? Warum vom Scheitern ausgehen? Das wäre gegen jede Sportlereh­re und kontraprod­uktiv für die 90 Minuten Wahrheit auf dem Platz. „Wir sind überzeugt, dass wir das Spiel gewinnen“, sagte Sami Khedira, als ihm ein schwedisch­er Journalist am Donnerstag ein Rückflugti­cket andrehen wollte. So geht Optimismus. Khedira weiter: „Ich bin der festen Überzeugun­g, dass diese Mannschaft den Charakter und den Willen hat, dieses Turnier noch weiterzufü­hren.“Er sagte aber auch: „Wir haben keinen Joker, keinen Bonus mehr. Wir haben sechs K.o.-Spiele“, sagte er und forderte die „Mentalität von elf Kriegern“.

Braucht dieses Team den maximalen Druck? Geht es nur dann, wenn man sich nicht mehr – wie zuvor im Trainingsl­ager und trotz der Warnschüss­e in den Tests gegen Österreich (1:2) und Saudi-Arabien (2:1) – einreden kann, dass es doch immer gut gegangen und diese Mannschaft wie selbstvers­tändlich auf den Punkt fit und bereit sei?

Die Mexikaner führten den Titelverte­idiger taktisch an der Nase herum. Die Führungssp­ieler der WMHelden von Rio wirkten wie Autofahrer, die im nahenden Stauende trotz aller Warnungen gedankenun­d tatenlos auf die bereits gecrashten Wagen auffuhren. Tilt! Ein Auffahrunf­all ohne GPS, ohne taktischen Airbag, ohne Lösungsans­ätze vom Trainer oder den Leadern der Reisegrupp­e.

Weil sich die Voyeure dieser kollektive­n Havarie, also Fans und Me- dien, in den Tagen danach die Protagonis­ten vorknöpfte­n, reagierten die Unfallfahr­er teils einsichtig und gaben wie Khedira eine Selbstanze­ige auf, teils aber auch genervt und beleidigt. Etwa Mats Hummels, der nun jedoch wegen eines ausgerenkt­en Halswirbel­s ausfällt. Als Alternativ­en für die Innenverte­idigung stehen Niklas Süle oder Antonio Rüdiger parat.

Auch ohne Hummels – nach der angespannt­en Aufarbeitu­ng der Mexiko-Pleite kann Trotz entstehen, ei- ne Jetzt-zeigen-wir-es-allen-Haltung. Mit dieser aus Wut gespeisten Energie hat eine deutsche Nationalel­f schon oft ihren Karren wieder flottbekom­men.

Löw nutzte die Bühne Sotschi, Lässigkeit zu demonstrie­ren

Das Spiel gegen Schweden könnte zum Nadelöhr dieses Turniers werden. Auch an früheren WM-Kreuzungen (das 4:2 gegen Schweden 1974 in der Zwischenru­nde, das 2:1 gegen Holland im Achtelfina­le 1990, das 2:1 gegen Algerien im Achtelfina­le vor vier Jahren) nahm Deutschlan­d die richtige Ausfahrt und parkte am Ende an der Haltestell­e Weltmeiste­r. Schweden wird ein sportliche­r Stresstest, eine moralische Charakterp­rüfung. Ende oder Wende?

Besonders Joachim Löw hatte die Bühne des Kurorts Sotschi ganz bewusst dafür genutzt, Lässigkeit zu demonstrie­ren. Er poste sonnenbebr­illt und kurzbehost für Fotos an der Strandprom­enade als wäre er schon im Titelverte­idigerurla­ub. Tollkühn? Gar dreist oder einfach nur keck und von Selbstvers­tändnis übermannt? „Jogi cool“setzte alles auf eine Karte.

Für Samstagabe­nd sind in Sotschi Gewitter angesagt. Es wird knallen.

So oder so.

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FOTO: DPA Klare Ansagen: Bundestrai­ner Joachim Löw.

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