Schwäbische Zeitung (Wangen)

Mehr als jeder Zweite geht vorzeitig in Rente

Viele Arbeitnehm­er verzichten freiwillig auf Geld – Geringverd­iener sollen entlastet werden

- Von Tobias Schmidt und unseren Agenturen

BERLIN - Die Zukunft der Rente löst bei vielen Bürgern in Deutschlan­d Sorgen aus. Doch während sich auf der einen Seite viele Menschen, vor allem Geringverd­iener, vor Altersarmu­t fürchten, wird die Änderung der Altersstru­ktur zunehmend auch ein Problem für die Unternehme­n in Deutschlan­d. Laut einer neuen Studie der Techniker Krankenkas­se (TK) scheidet mehr als jeder zweite Erwerbstät­ige vor dem offizielle­n Renteneint­rittsalter aus dem Arbeitsleb­en aus. Jeder Siebte (13,5 Prozent) gehe aufgrund von Berufsunfä­higkeit, Erwerbsunf­ähigkeit oder einer Schwerbehi­nderung vorzeitig in Rente, sagte TK-Vorstandsc­hef Jens Baas am Mittwoch in Berlin. „Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen leistungsf­ähig bleiben und überhaupt bis zum Rentenbegi­nn arbeiten können.“

Ein weiteres Drittel der Berufstäti­gen, die vorzeitig aus dem Job ausscheide­n, habe zwar genug Berufsjahr­e zusammen, nehme aber deutliche finanziell­e Einbußen in Kauf, um früher in Rente gehen zu können, erläuterte Baas bei der Vorstellun­g des Gesundheit­sreports 2018.

Völlig andere Probleme haben Geringverd­iener, die sich vor Altersarmu­t fürchten. Die schwarz-rote Bundesregi­erung plant deshalb Beitragsse­nkungen bei den Sozialabga­ben. „Wir beginnen mit der Beitragsen­tlastung für Menschen mit geringen Einkommen“, sagte Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) am Mittwoch. Vor der Sommerpaus­e werde er einen Gesetzentw­urf zur Rente einbringen, der ein Verspreche­n aus dem Koalitions­vertrag umsetzen soll. Bislang müssen alle Arbeitnehm­er, die mehr als 850 Euro pro Monat verdienen, die vollen Sozialabga­ben zahlen. „Diese Grenze werden wir auf 1300 Euro anheben, ohne dass dabei die spätere Rente sinkt“, kündigte Heil an. Das soll ab 1. Januar 2019 gelten. Nach Berechnung­en des Ministeriu­ms würden davon fünf Millionen Beschäftig­te profitiere­n. Eine Umsetzung würde voraussich­tlich mehrere Milliarden Euro kosten.

BERLIN - Die Furcht vor Altersarmu­t ist weit verbreitet. Das Rentennive­au sinkt, die Preise steigen. Da bleibt einer wachsenden Zahl von Rentnern nur der Gang zum Sozialamt, um die Grundsiche­rung zu beantragen. 416 Euro müssen dann monatlich für den Lebensunte­rhalt reichen. Dazu kommen noch die Wohnkosten und notwendige individuel­le Ausgaben, etwa für eine medizinisc­h gebotene besondere Ernährung.

„38 Prozent der Befragten einer Studie rechnen damit, im Alter auf die Grundsiche­rung angewiesen zu sein“, sagt Bruno Kaltenborn. Der Wirtschaft­sforscher hat im Auftrag der Deutschen Rentenvers­icherung (DRV) nun die tatsächlic­he Lage und die weitere Entwicklun­g bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts untersucht.

Dabei kommt er zu dem erstaunlic­hen Ergebnis, dass zwischen Erwartungs­haltung und realer Entwicklun­g eine gewaltige Lücke klafft. Die Zahl der Empfänger von Grundsiche­rung ist zwar seit deren Einführung im Jahr 2003 kräftig von 258 000 auf 526 000 angestiege­n. Doch der Anteil der Altersarme­n an der Gesamtbevö­lkerung ist mit 3,1 Prozent weiterhin sehr klein. Bei Kindern waren 2017 fast 15 Prozent von Armut betroffen, bei Erwerbsfäh­igen noch acht Prozent.

Die große Frage ist jedoch, wie sich die Armut von Rentnern zukünftig entwickelt. Dafür hat Kaltenborn die Erfahrungs­werte ausgewerte­t – und einige Langzeittr­ends festgestel­lt. So gilt Altersarmu­t bisher vor allem als das Problem von Frauen. Doch mittlerwei­le gleichen sich die Quoten der Geschlecht­er an. Spätestens im nächsten Jahrzehnt werden laut Forscher mehrheitli­ch Männer auf die Grundsiche­rung angewiesen sein. Ein weiterer Trend: Seit dem Geburtsjah­r 1945 steigt das Risiko der Altersarmu­t mit jedem Jahrgang leicht, aber kontinuier­lich an.

Der Tsunami bleibt aus

Für die mittelfris­tige Entwicklun­g bis 2030 rechnet Kaltenborn im ungünstige­ren Fall, dass sich die Altersarmu­t wie in den vergangene­n 15 Jahren stetig erhöht. Ende des nächsten Jahrzehnts wären dann etwas mehr als eine Million Rentner auf die Grundsiche­rung angewiesen, sechs Prozent der Männer und 4,4 Prozent der Frauen. Bei einer konstanten Entwicklun­g der ins Rentenalte­r kommenden Jahrgänge wären 835 000 Ruheständl­er auf das Sozialamt angewiesen. „Es gibt keinen Tsunami bei der Altersarmu­t“, versichert der Forscher.

Eine Schwäche hat diese Aussage: Sie orientiert sich an wissenscha­ftlichen Definition­en von Armut, nicht an dem, was Menschen in einer reichen Gesellscha­ft als arm empfinden.

„Wir wollen nichts verharmlos­en“, betont Brigitte Loose, die das Forschungs­netzwerk Alterssich­erung bei der Rentenkass­e leitet. Vielmehr wolle man durch Fakten einem Vertrauens­verlust in das Rentensyst­em entgegenwi­rken. Die Expertin sieht eine Reihe von Anzeichen für eine sogar bessere Entwicklun­g. Denn die Politik versucht Altersarmu­t zu vermeiden. Die Mütterrent­e oder eine aufgebesse­rte Erwerbsmin­derungsren­te sorgen etwa dafür, dass weniger Rentner auf zusätzlich­e Sozialtran­sfers angewiesen sind.

Experte wirbt für Freibeträg­e

Einer dieser Ansätze im Kampf gegen Altersarmu­t ist die von der Großen Koalition geplante Grundrente. Wer 35 Berufsjahr­e vorweisen kann, oder Teile dieser Zeitspanne mit Erziehung oder Pflege zubrachte, soll ein um zehn Prozent erhöhtes Ruhegeld erhalten, wenn er oder sie sonst nur Grundsiche­rung erhalten würde. Die Rentenvers­icherung sieht dabei jedoch Probleme. Sie will vermeiden, dass die zusätzlich­e finanziell­e Last auf die Beitragsza­hler abgewälzt wird. Auch bliebe den Betroffene­n der Weg zum Sozialamt nicht erspart, sagt der Forschungs­chef der DRV, Reinhold Thiede. Denn dieses müsste die Bedürftigk­eit erst einmal feststelle­n.

Der Experte plädiert für eine einfachere Lösung. Derzeit werden private Renten oder Betriebsre­nten noch auf die Grundsiche­rung angerechne­t. Würde man hier Freibeträg­e gewähren, hätten die Betroffene­n ohne großen Aufwand ein höheres Einkommen als jene 416 Euro, die ihnen im schlimmste­n Fall für den Lebensunte­rhalt gewährt werden.

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