Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Wir verkaufen uns unter Wert“

Physiother­apeuten gehen auf die Barrikaden und fordern bessere Arbeitsbed­ingungen

- Von Ruth Auchter

RAVENSBURG - Eigentlich mag Johanna Spieß (26) ihren Beruf. Trotzdem ist die Physiother­apeutin aus Bad Waldsee am Überlegen, ob sie weitermach­t. „Es muss sich dringend was ändern“, sagt Spieß. Und rührt die Werbetromm­el für die Internet-Kampagne #ohnemeinen­physiother­apeuten, die Kreise bis nach Oberschwab­en zieht. Schon mehr als 187 000 Leute setzen sich dort für besser Arbeits- und Ausbildung­sbedingung­en für Logopäden, Physio- und Ergotherap­euten sowie andere Heilberufe ein.

„Jeder Handwerker verdient während seiner Ausbildung – wir zahlen dafür“, ärgert sich auch Kollege Oliver Rude (33). Hintergrun­d: Physio- und andere Therapeute­n müssen für ihre dreijährig­e Ausbildung an einer privaten Schule wie Bernd-Blindow in Friedrichs­hafen oder Kiedaisch in Ravensburg bezahlen – 320 Euro im Monat. Und wenn sie bestimmte Behandlung­en wie etwa eine Lymphdrain­age machen wollen, müssen sie nochmal Extra-Fortbildun­gen dafür absolviere­n. Die wieder Geld kosten. So kann’s nicht weitergehe­n – finden nicht nur Spieß und Rude: Auch der selbststän­dige Physiother­apeut Tim Maller ist der Meinung: „Seit Jahren wird unser Beruf kaputtgesp­art.“

Maller kritisiert unter anderem die „hohen Ausbildung­skosten, das niedrige Gehalt und das PatientenH­opping im 20-Minuten-Takt“in seinem Berufsstan­d – und hat, damit sich was ändert, eine bundesweit­e Kampagne gestartet. Zum Auftakt gab’s Ende Mai eine Demo in Köln. Am Ende will man Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn mit der Unterschri­ftenliste Druck machen. Der Staat soll die Ausbildung­skosten übernehmen. Erster Erfolg, freut sich Rude: Zum Oktober 2018 tue er das zumindest zur Hälfte.

Der 33-jährige Bad Waldseer findet, es sei höchste Zeit, dass was passiert, denn: Erstens könne man mit einem Physiother­apeuten-Gehalt „keine Familie versorgen“. Und zweitens steige deshalb jeder vierte Kollege aus und wechsle den Beruf. Darum setzen Spieß und Rude auf Aufklärung und diskutiere­n das Thema mit ihren Patienten. „Viele meinen, wir verdienen sehr gut“, erlebt Spieß, die in Bad Waldsee arbeitet, dabei oft. Außerdem hoffen die beiden, dass die Internet-Kampagne am Ende Erfolg hat. Und auch die Kassensätz­e angehoben sowie die Behandlung­szeiten verlängert werden.

Täglich zwölf Stunden Arbeit

Das wünscht sich auch Heinz Dieterle, der eine Physiother­apiepraxis in Ravensburg betreibt. Weil die Behandlung­szeiten, die die Krankenkas­sen bezahlen, viel zu knapp bemessen seien, „schenke ich jedem Patienten Zeit“, sagt Dieterle, der nach eigener Aussage täglich auf zwölf Stunden Arbeit kommt. Die Praxis könne er lediglich durch die Unterstütz­ung seiner Eltern und dank Privatpati­enten am Laufen halten. Menschen zu helfen und dabei Geld zu verdienen – das sei tatsächlic­h schwierig: „Wir Physiother­apeuten verkaufen uns unter Wert“, findet er. Rude und Spieß plädieren zudem für eine Akademisie­rung der Gesundheit­sberufe zum Bachelor of Science Physiother­apie.

Weitere Infos im Internet gibt es auf der Webseite zur Kampagne unter

https://ohne-physios.de

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FOTO: LANER Physiother­apeuten kämpfen um mehr Geld und längere Behandlung­szeiten.

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