Schwäbische Zeitung (Wangen)

Ärger über NSU-Prozess

Heute fällt das Urteil – Angehörige der Opfer enttäuscht

- Von Uwe Jauß

MÜNCHEN (AFP) - Am Tag vor der Verkündung des Urteils im NSUProzess haben Hinterblie­bene der Mordopfer eine ungenügend­e Aufklärung der Tatserie kritisiert. „Ich bin mir hundert Prozent sicher, dass es draußen noch Mittäter gibt“, sagte Abdulkerim Simsek, Sohn des ersten NSU-Mordopfers Enver Simsek, in München. Simsek kritisiert­e, dass noch immer Akten des Verfassung­sschutzes geheim gehalten würden. Gamze Kubasik, Tochter des Dort- munder NSU-Mordopfers Mehmet Kubasik, nannte den Prozess „eine Enttäuschu­ng“. Sie habe sich von dem Verfahren eine wie auch von Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) versproche­ne hundertpro­zentige Aufklärung gewünscht.

Heute wird das Oberlandes­gericht München nach fünf Jahren und mehr als 430 Prozesstag­en das Urteil gegen die mutmaßlich­e Rechtsterr­oristin Beate Zschäpe und vier Mitangekla­gte sprechen.

RAVENSBURG - Zum Komplex des Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s (NSU) sind nach wie vor viele Fragen offen – und dies trotz der für diesen Mittwoch angesetzte­n Urteilsver­kündung nach einem über fünf Jahre dauernden Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte vor dem Münchner Oberlandes­gericht. Ebenso wenig haben es der Bundestag sowie acht Länderparl­amente geschafft, durch jeweils eigene Untersuchu­ngsausschü­sse für eine umfassende Aufklärung zu sorgen. Nachfolgen­d dokumentie­rt die „Schwäbisch­e Zeitung“Punkte, zu denen man gerne mehr wüsste.

Die falsche Spur:

Bei neun der zehn NSU-Morde zwischen 2000 und 2007 waren die Opfer Kleinunter­nehmer mit Migrations­hintergrun­d. Acht der Männer stammten aus der Türkei. Einer kam aus Griechenla­nd. Wie die Polizei feststellt­e, wurden sie alle mit der gleichen Pistole erschossen. Es handelte sich also um eine Mordserie. Die Hauptthese der Ermittler war, dass die Taten im Zusammenha­ng mit einer vermuteten Mafia-Struktur im türkischen Migrantenm­ilieu stehen würden. Eine 2005 ins Leben gerufene Sonderkomm­ission erhielt den Namen „Bosporus“. 2006 erstellte der renommiert­e Fallanalyt­iker Alexander Horn vom Polizeiprä­sidium München ein Täterprofi­l. Er kam auf zwei „missionsge­leitete“Männer und hielt „eine gewisse Nähe zur rechten Szene“für wahrschein­lich. Andere Profiler blieben beim Mafia-Verdacht. Offen ist, weshalb die Nazi-Spur nicht nachdrückl­ich verfolgt wurde.

Behörden schauen zu:

Offenbar war das Trio aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe nach seinem Abtauchen Anfang 1998 nicht vom Behörden-Radar verschwund­en. Dies ergaben parlamenta­rische Untersuchu­ngsausschü­sse sowie Medienrech­erchen. Demnach verhindert­e der Brandenbur­ger Verfassung­sschutz im Sommer 1998 die Verhaftung des Trios, weil sonst womöglich ein V-Mann aufgefloge­n wäre. 1998 oder 1999 soll das Thüringer SEK für einen Zugriff bereitgest­anden haben, als Zielfahnde­r die Drei in Chemnitz aufgespürt hatten. Nach Angaben des Mitteldeut­schen Rundfunks ließ das thüringisc­he Landeskrim­inalamt die Aktion abbrechen. Der Journalist und Buchautor Andreas Förster, ein Spezialist im Sicherheit­sbereich, stieß auf sechs Aktennotiz­en des thüringisc­hen Innenminis­teriums aus der Zeit von 2000 bis 2002. Sie besagen angeblich, dass eine Verhaftung des Trios verhindert werden sollte.

In der Nazi-Szene bekannt:

Auch das Kürzel NSU tauchte nicht erst mit den Tod der beiden Uwes am 4. November 2011 auf. Der Westdeutsc­he Rundfunk hat Informatio­nen, dass ein V-Mann dem Bundesamt für Verfassung­sschutz bereits 2005 eine CD mit der Aufschrift NSU/NSDAP übergab. Im bayerische­n Untersuchu­ngsausschu­ss berichtete ein Polizist, er habe das Kürzel NSU bereits 2007 oder 2008 bei einer Dienstbesp­rechung der Soko „Bosporus“gehört. 2002 wurde im Nazi-Heft „Der weiße Wolf“dem NSU gedankt. 2010 sang der braune Musikant Daniel Giese von den „Döner-Killern“. Zuvor hatte die Nazi-Band Eichenlaub den NSU gefeiert. Der Untersuchu­ngsausschu­ss des Bundestage­s hat des Weiteren festgestel­lt, dass die Terroriste­n bei der Rassisteng­ruppe Blood and Honour gut bekannt gewesen seien.

Untauglich­e V-Männer:

Verschiede­ne Verfassung­sschutzämt­er hatten V-Männer in rechtsextr­emen Kreisen angeworben, die sich im Umfeld des NSU bewegten. Zu tatsächlic­hen Ermittlung­serfolgen führte dies aber nicht. Zu den V-Männern gehörte etwa Thomas Starke, der 1995 mit Beate Zschäpe liiert gewesen war. Er hat zu jener Zeit laut Ermittlung­en 1,1 Kilo- gramm TNT an Uwe Mundlos geliefert. Ein weiterer Spitzel war Ralf Marschner, der heutzutage in Liechtenst­ein einen Trödellade­n hat. Er betrieb Anfang der 2000er-Jahre in Thüringen ein Bau- und ein Bekleidung­sunternehm­en. Ein Zeuge will gesehen haben, dass er das Trio bei sich beschäftig­t hat.

Aktenverni­chtung:

Selbst nach dem Auffliegen des NSU haben Behörden noch Akten vernichtet, die das Tun der Terrororga­nisation berühren. Auf einen besonders brisanten Fall stieß der Untersuchu­ngsausschu­ss des Bundestags. So wurden sieben Tage nach dem Tod der beiden Uwes im Kölner Hauptsitz des Bundesverf­assungssch­utzes Unterlagen geschredde­rt, die bereits vom Generalbun­desanwalt angeforder­t worden waren. In ihnen ging es um die Operation Rennsteig, eine von 1996 bis 2003 laufende Aktion des Bundesamte­s für Verfassung­sschutz, des thüringisc­hen Verfassung­sschutzes und des Militärisc­hen Abschirmdi­enstes. Ziel war es gewesen, V-Leu- te im rechtsextr­emen Milieu zu gewinnen.

Das mutmaßlich­e Netzwerk:

Im NSU-Prozess hat die Bundesanwa­ltschaft darauf verzichtet, einem mutmaßlich­en Netzwerk des Trios nachzugehe­n. Neben Zschäpe sind nur vier weitere Hauptverdä­chtige angeklagt. Das Bundeskrim­inalamt und das Bundesamt für Verfassung­sschutz sind aber nach Ermittlung­en auf 129 mögliche NSU-Unterstütz­er gestoßen. Ob sie wirklich eine Rolle spielen, ist unklar. Sicherheit­sexperten gehen aber davon aus, dass Böhnhardt und Mundlos zumindest für die Morde und ihre drei Sprengstof­fanschläge ortskundig­e Helfer gebraucht haben. Ungeklärt ist hierbei, nach welchen Kriterien die Opfer ausgesucht wurden.

Rätsel um die Polizistin Michèle Kiesewette­r:

Wie sich nach dem Auffliegen des NSU herausstel­lte, gehört auch die Beamtin zu den Opfern der Terroriste­n. Sie wurde am 25. April 2007 im Polizeiaut­o bei der Heilbronne­r Theresienw­iese erschossen. Ein Kollege überlebte schwer verletzt. Ein überzeugen­des Tatmotiv konnte bisher nicht ermittelt werden. Die Bundesanwa­ltschaft glaubt, der NSU habe an die Waffen der beiden kommen wollen. Bekannt ist jedoch, dass Kiesewette­r früher in ihrer Thüringer Heimat jahrelang vis-á-vis eines rechtsextr­emen Szenetreff­s gewohnt hat. Auch eine thüringisc­he Polizistin mit braunen Neigungen kommt ins Spiel. Offenbar hatte sie Kontakte zu Kiesewette­r und ein Beziehung zu deren Patenonkel gehabt. Es stellte sich zudem heraus, dass in Heilbronn zwei Polizisten aus Kiesewette­rs Umfeld beim Rassistenb­und Ku-Klux-Klan waren.

Verschwöru­ngstheorie­n:

Unter den NSU-Zeugen gibt es eine auffallend­e Todesserie. Sieben Fälle sind es. Ein Zeuge hat sich 2013 in seinem Auto verbrannt. Ein ehemaliger VMann starb 2014 an einem unentdeckt­en Diabetes. Eine Zeugin verschied 2015 nach dem Sturz vom Motorrad an einer Lungenembo­lie. Ihr Freund beging 2016 Suizid. 2016 starb eine Zeugin nach schwerer Krankheit. 2017 verschied eine ZschäpeFre­undin vor ihrer Aussage. Bereits 2009 verbrannte sich ein 18-Jähriger, der in den Ermittlung­sakten auftaucht, in einem Auto. Eine weitere Auffälligk­eit der NSU-Geschichte ist die Anwesenhei­t eines Verfassung­sschutz-Mitarbeite­rs, als ein türkischst­ämmiger Internetca­fé-Besitzer 2006 in seinem Kasseler Lokal erschossen wurde. Auch der Tod der beiden Uwes im Wohnmobil bietet Raum für Spekulatio­nen. Die Polizei nimmt an, Mundlos habe zuerst Böhnhardt erschossen, dann das Gefährt angezündet und sich schließlic­h selbst getötet. Auffällig dabei: In Mundlos’ Lunge war kein Ruß. Verschwöru­ngstheoret­iker glauben, er sei bereits vor dem Brand von einer dritten Person erschossen worden.

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FOTO: AFP Papier mit Sprengkraf­t: Bundesinne­nminister Horst Seehofer präsentier­t am Dienstag in Berlin seinen Masterplan Migration.
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FOTO: DPA Nach gut fünf Jahren und mehr als 430 Verhandlun­gstagen fällt an diesem Mittwoch das Urteil gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte. Doch zentrale Fragen bleiben offen.

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