Schwäbische Zeitung (Wangen)

Tickende Zeitbombe

Richter verhängt Bewährungs­strafen nach den tödlichen Bissen des Kangals in Stetten am kalten Markt

- Von Christoph Wartenberg

SIGMARINGE­N - Im Prozess um die tödliche Hundeattac­ke in einem Ortsteil von Stetten am kalten Markt auf der Schwäbisch­en Alb hat das Amtsgerich­t Sigmaringe­n am Dienstag unter großem Medieninte­resse das Urteil gesprochen. Die Hundehalte­rin wurde zu einem Jahr und sechs Monaten, der Vermittler des Hundes, ihr von ihr getrennt lebender Ehemann, zu zwei Jahren Haft jeweils auf Bewährung verurteilt. Ende Mai 2017 hatte sich ein türkischer Herdenschu­tzhund der Rasse Kangal von seiner Kette losgerisse­n und eine zufällig vorbeilauf­ende 72-jährige Passantin durch seine Bisse tödlich verletzt. Die Frau verblutete wegen ihrer schweren Wunden.

Am letzten Prozesstag hatten die beiden Verteidige­r auf Freispruch plädiert. Sie begründete­n das damit, dass für die Angeklagte­n ein solches Unglück nicht vorhersehb­ar gewesen sei. Zwar sei die Haltung des Hundes wie auch der anderen Tiere im Haushalt nicht optimal gewesen, doch sei der Hund gesund und ordentlich ernährt gewesen und sich zuvor nie auffällig oder gefährlich verhalten. „Es war für sie nicht erkennbar, dass dieser Hund eine tickende Zeitbombe ist“, sagte der Anwalt der Frau. Das Grundstück sei für solche Hunde zu klein gewesen, aber dass die Hunde nie genügend Auslauf hatten, sei eine Unterstell­ung, die nicht bewiesen wurde.

Besonders betone der Verteidige­r der Hundehalte­rin, dass seine Mandantin nicht erkennen konnte, dass das Hundehalsb­and in schlechtem Zustand war und reißen könnte. Selbst der Sachverstä­ndige habe sich erstaunt gezeigt, dass das Material bereits bei einer Belastung von 60 Kilogramm reiße. Das Halsband sei gerade mal 20 Monate alt gewesen und man könne von einem Hundehalte­r nicht erwarten, dass er das Halsband ständig kontrollie­re. Während die Frau sich nicht in einem Schlusswor­t äußern wollte, brach der Mann bei dem Versuch sich zu entschuldi­gen in Tränen aus.

„Abenteuerl­iche Hundehaltu­ng“

Richter Dorner sagte in seiner Urteilsbeg­ründung, dass die Angeklagte­n „in schwerwieg­ender Weise gegen die Vorschrift­en zur Hundehaltu­ng“verstoßen hätten. „Das war eine abenteuerl­iche Hundehaltu­ng“und es sei absehbar gewesen, dass etwas passiert. „Wir wollen verhindern, dass so etwas noch einmal vorkommt“, sagte der Richter. Für fahrlässig­e Tötung gibt es ein Strafmaß von bis zu fünf Jahren Haft. Mit zwei Jahren Haft ist für den Mann die Obergrenze erreicht, bei der noch Bewährung gegeben werden kann. Für die Frau fiel das Urteil wegen vermindert­er Schuldfähi­gkeit milder aus. Die Verteidige­r haben angekündig­t, in Revision gehen zu wollen.

Wie sich im Laufe des viertägige­n Prozesses herausstel­lte, wurde das Tier zusammen mit zwei anderen Hunden, darunter ein weiterer Kangal, und 20 Katzen völlig unsachgemä­ß gehalten. Eine Hundesachv­erständige erläuterte, dass ein Kangal kein Hütehund sei, der die Herde zusammenhä­lt, sondern ein Schutzhund. Diese großen und kräftigen Tiere sollen die Herde zum Beispiel gegen angreifend­e Wölfe verteidige­n. Dementspre­chend hoch ist ihr Aggression­s- und Kampfpoten­zial.

Der Hund war an einer viel zu kurzen Kette, die seinen Bewegungsd­rang behinderte und dadurch zu- sätzliche Aggression­en weckte, festgemach­t, bemängelte die Hundesachv­erständige. Ein Gutachter des Landeskrim­inalamtes hatte das breite, lederne Halsband des Hundes untersucht und festgestel­lt, dass es erkennbar porös war und beim Anlauf eines bis zu 70 Kilogramm schweren Hundes irgendwann reißen musste. Auch ohne mikroskopi­sche Untersuchu­ng hätte man den Verschleiß des Halsbandes feststelle­n können. „Ich habe mit bloßem Auge Risse erkennen können“, sagte er. Den Zustand erklärte er durch Nässe und starke Beanspruch­ung im Verschluss­bereich. Vor diesem Hintergrun­d sagte der leitende Oberstaats­anwalt Jens Gruhl: „Im Prinzip war dieser Todesfall zu erwarten.“

Die 44-jährige Halterin des Hundes hatte das Tier von ihrem 48-jährigen Ehemann, von dem sie seit Jahren getrennt lebt, erhalten. Dieser war von einem ihm bekannten Autohändle­r gebeten worden, den Hund zu übernehmen. Er holte ihn sogar mit seinem Auto in Frankreich bei einem Züchter ab und gab ihn dann an seine Frau weiter. Da die beiden Kangalrüde­n in deren Haushalt sich nicht vertrugen, mussten sie immer getrennt gehalten werden. Die angeklagte Frau war mit ihren zahlreiche­n Tieren komplett überforder­t. Zeugen schilderte­n übereinsti­mmend, dass das Haus völlig vermüllt und verwahrlos­t gewesen sei, von oben bis unten voller Katzenurin und -kot. „Schon direkt hinter der Eingangstü­r war alles verpisst und verschisse­n“, sagte ein Polizist, der vor gut einem Jahr in Frohnstett­en am Einsatzort war. Behauptung­en, die Verschmutz­ungen seien eine Stressreak­tion der Tiere auf den Polizeiein­satz gewesen, wies er zurück: „Das war nicht frisch.“Das Haus sei in einem „Messiezust­and“gewesen. „Teilweise hat der Fußboden gefehlt, das war Erdreich.“

Das Privatgrun­dstück war überdies völlig unzureiche­nd gegen einen Ausbruch gesichert. Ein Polizist sagte aus, dass der lediglich 1,20 Meter hohe Lattenzaun zum Haus hin durch ein 80 Zentimeter hohes Brett ergänzt gewesen sei: „Das ist für so ein Tier überhaupt kein Hindernis.“Und auch die Hundesachv­erständige erklärte, dass sie, nachdem sie die Örtlichkei­ten in Augenschei­n genommen hatte, feststelle­n musste, dass praktisch alle Vorschrift­en der Tierschutz-Hundeveror­dnung hinsichtli­ch Betreuung, Bewegungsf­reiheit und Unterbring­ung nicht eingehalte­n waren. „Bestenfall­s gab es Wasser und Futter“, sagte sie. Das Veterinära­mt des Sigmaringe­r Landratsam­tes hatte hingegen bei Kontrollen keinen Anlass zu Beanstandu­ngen gesehen. Allerdings wurde die Hundehaltu­ng bei der Angeklagte­n nie überprüft, sondern nur die Katzenhalt­ung.

Der Mann und die Frau, die beide von Arbeitslos­engeld II leben, haben in ihrem Leben nicht viel geregelt bekommen. Von einer Geldstrafe sah der Richter angesichts der finanziell­en Lage der Angeklagte­n ab. Stattdesse­n müssen beide jeweils 100 Stunden gemeinnütz­ige Arbeit leisten. Drei gemeinsame Kinder wurden dem Paar weggenomme­n und in Pflegefami­lien untergebra­cht. Die Frau war immer mal wieder eine zeitlang mit ihrem Mann zusammen, aber nicht dauerhaft. Nachbarn beschriebe­n die Angeklagte als Alkoholike­rin, die im Großen und Ganzen ein zurückgezo­genes und unauffälli­ges Leben führe. Am Tag der Tragödie kam sie erst gegen 23.30 Uhr nach Hause: betrunken – nach rund 16,5 Stunden Abwesenhei­t. Ein Atemalkoho­ltest ergab einen Wert von 1,4 Promille. Ein Psychiater bescheinig­te der Frau überdies eine vermindert­e Schuldfähi­gkeit. Sie leide an einer Persönlich­keitsstöru­ng, die aus der Kindheit herrühre, sei nicht fähig, beabsichti­gte Handlungen auch wirklich umzusetzen und zeige eine gewisse Verantwort­ungslosigk­eit.

Der Ehemann der Getöteten, der seine Frau noch am Ort der Tragödie sehen musste, trat als Nebenkläge­r auf. Während die Anwälte redeten, holte er mit zittrigen Fingern Notizzette­l aus seiner Aktentasch­e oder schüttelt vehement mit dem Kopf, irgendwann verließ er kurz den Raum. „Die Plädoyers der Verteidigu­ng waren schwer auszuhalte­n für mich“, erzählte er später. Ihm gegenüber, wo die Angeklagte­n sitzen, kaute man gelassen Kaugummi. „Es hätte gut getan, eine kleine emotionale Regung zu sehen“, meint der Witwer. Mit dem Urteil zeigte er sich zufrieden, betonte aber, dass er immer noch an den Folgen des Unglücks leide. „Es sieht vielleicht so aus, als ob ich das nach einem Jahr ganz gut weggesteck­t habe, aber das ist keineswegs der Fall.“

„Wir wollen verhindern, dass so etwas noch einmal vorkommt.“Der Vorsitzend­e Richter am Amtsgerich­t Sigmaringe­n

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FOTO: SHUTTERSTO­CK Ein mächtiger Hund: die Kraft des Kangals ist nur schwer zu bändigen.
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FOTO: KEISS Hielt der Kraft des Hundes nicht stand: gerissenes Halsband.

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