Tickende Zeitbombe
Richter verhängt Bewährungsstrafen nach den tödlichen Bissen des Kangals in Stetten am kalten Markt
SIGMARINGEN - Im Prozess um die tödliche Hundeattacke in einem Ortsteil von Stetten am kalten Markt auf der Schwäbischen Alb hat das Amtsgericht Sigmaringen am Dienstag unter großem Medieninteresse das Urteil gesprochen. Die Hundehalterin wurde zu einem Jahr und sechs Monaten, der Vermittler des Hundes, ihr von ihr getrennt lebender Ehemann, zu zwei Jahren Haft jeweils auf Bewährung verurteilt. Ende Mai 2017 hatte sich ein türkischer Herdenschutzhund der Rasse Kangal von seiner Kette losgerissen und eine zufällig vorbeilaufende 72-jährige Passantin durch seine Bisse tödlich verletzt. Die Frau verblutete wegen ihrer schweren Wunden.
Am letzten Prozesstag hatten die beiden Verteidiger auf Freispruch plädiert. Sie begründeten das damit, dass für die Angeklagten ein solches Unglück nicht vorhersehbar gewesen sei. Zwar sei die Haltung des Hundes wie auch der anderen Tiere im Haushalt nicht optimal gewesen, doch sei der Hund gesund und ordentlich ernährt gewesen und sich zuvor nie auffällig oder gefährlich verhalten. „Es war für sie nicht erkennbar, dass dieser Hund eine tickende Zeitbombe ist“, sagte der Anwalt der Frau. Das Grundstück sei für solche Hunde zu klein gewesen, aber dass die Hunde nie genügend Auslauf hatten, sei eine Unterstellung, die nicht bewiesen wurde.
Besonders betone der Verteidiger der Hundehalterin, dass seine Mandantin nicht erkennen konnte, dass das Hundehalsband in schlechtem Zustand war und reißen könnte. Selbst der Sachverständige habe sich erstaunt gezeigt, dass das Material bereits bei einer Belastung von 60 Kilogramm reiße. Das Halsband sei gerade mal 20 Monate alt gewesen und man könne von einem Hundehalter nicht erwarten, dass er das Halsband ständig kontrolliere. Während die Frau sich nicht in einem Schlusswort äußern wollte, brach der Mann bei dem Versuch sich zu entschuldigen in Tränen aus.
„Abenteuerliche Hundehaltung“
Richter Dorner sagte in seiner Urteilsbegründung, dass die Angeklagten „in schwerwiegender Weise gegen die Vorschriften zur Hundehaltung“verstoßen hätten. „Das war eine abenteuerliche Hundehaltung“und es sei absehbar gewesen, dass etwas passiert. „Wir wollen verhindern, dass so etwas noch einmal vorkommt“, sagte der Richter. Für fahrlässige Tötung gibt es ein Strafmaß von bis zu fünf Jahren Haft. Mit zwei Jahren Haft ist für den Mann die Obergrenze erreicht, bei der noch Bewährung gegeben werden kann. Für die Frau fiel das Urteil wegen verminderter Schuldfähigkeit milder aus. Die Verteidiger haben angekündigt, in Revision gehen zu wollen.
Wie sich im Laufe des viertägigen Prozesses herausstellte, wurde das Tier zusammen mit zwei anderen Hunden, darunter ein weiterer Kangal, und 20 Katzen völlig unsachgemäß gehalten. Eine Hundesachverständige erläuterte, dass ein Kangal kein Hütehund sei, der die Herde zusammenhält, sondern ein Schutzhund. Diese großen und kräftigen Tiere sollen die Herde zum Beispiel gegen angreifende Wölfe verteidigen. Dementsprechend hoch ist ihr Aggressions- und Kampfpotenzial.
Der Hund war an einer viel zu kurzen Kette, die seinen Bewegungsdrang behinderte und dadurch zu- sätzliche Aggressionen weckte, festgemacht, bemängelte die Hundesachverständige. Ein Gutachter des Landeskriminalamtes hatte das breite, lederne Halsband des Hundes untersucht und festgestellt, dass es erkennbar porös war und beim Anlauf eines bis zu 70 Kilogramm schweren Hundes irgendwann reißen musste. Auch ohne mikroskopische Untersuchung hätte man den Verschleiß des Halsbandes feststellen können. „Ich habe mit bloßem Auge Risse erkennen können“, sagte er. Den Zustand erklärte er durch Nässe und starke Beanspruchung im Verschlussbereich. Vor diesem Hintergrund sagte der leitende Oberstaatsanwalt Jens Gruhl: „Im Prinzip war dieser Todesfall zu erwarten.“
Die 44-jährige Halterin des Hundes hatte das Tier von ihrem 48-jährigen Ehemann, von dem sie seit Jahren getrennt lebt, erhalten. Dieser war von einem ihm bekannten Autohändler gebeten worden, den Hund zu übernehmen. Er holte ihn sogar mit seinem Auto in Frankreich bei einem Züchter ab und gab ihn dann an seine Frau weiter. Da die beiden Kangalrüden in deren Haushalt sich nicht vertrugen, mussten sie immer getrennt gehalten werden. Die angeklagte Frau war mit ihren zahlreichen Tieren komplett überfordert. Zeugen schilderten übereinstimmend, dass das Haus völlig vermüllt und verwahrlost gewesen sei, von oben bis unten voller Katzenurin und -kot. „Schon direkt hinter der Eingangstür war alles verpisst und verschissen“, sagte ein Polizist, der vor gut einem Jahr in Frohnstetten am Einsatzort war. Behauptungen, die Verschmutzungen seien eine Stressreaktion der Tiere auf den Polizeieinsatz gewesen, wies er zurück: „Das war nicht frisch.“Das Haus sei in einem „Messiezustand“gewesen. „Teilweise hat der Fußboden gefehlt, das war Erdreich.“
Das Privatgrundstück war überdies völlig unzureichend gegen einen Ausbruch gesichert. Ein Polizist sagte aus, dass der lediglich 1,20 Meter hohe Lattenzaun zum Haus hin durch ein 80 Zentimeter hohes Brett ergänzt gewesen sei: „Das ist für so ein Tier überhaupt kein Hindernis.“Und auch die Hundesachverständige erklärte, dass sie, nachdem sie die Örtlichkeiten in Augenschein genommen hatte, feststellen musste, dass praktisch alle Vorschriften der Tierschutz-Hundeverordnung hinsichtlich Betreuung, Bewegungsfreiheit und Unterbringung nicht eingehalten waren. „Bestenfalls gab es Wasser und Futter“, sagte sie. Das Veterinäramt des Sigmaringer Landratsamtes hatte hingegen bei Kontrollen keinen Anlass zu Beanstandungen gesehen. Allerdings wurde die Hundehaltung bei der Angeklagten nie überprüft, sondern nur die Katzenhaltung.
Der Mann und die Frau, die beide von Arbeitslosengeld II leben, haben in ihrem Leben nicht viel geregelt bekommen. Von einer Geldstrafe sah der Richter angesichts der finanziellen Lage der Angeklagten ab. Stattdessen müssen beide jeweils 100 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. Drei gemeinsame Kinder wurden dem Paar weggenommen und in Pflegefamilien untergebracht. Die Frau war immer mal wieder eine zeitlang mit ihrem Mann zusammen, aber nicht dauerhaft. Nachbarn beschrieben die Angeklagte als Alkoholikerin, die im Großen und Ganzen ein zurückgezogenes und unauffälliges Leben führe. Am Tag der Tragödie kam sie erst gegen 23.30 Uhr nach Hause: betrunken – nach rund 16,5 Stunden Abwesenheit. Ein Atemalkoholtest ergab einen Wert von 1,4 Promille. Ein Psychiater bescheinigte der Frau überdies eine verminderte Schuldfähigkeit. Sie leide an einer Persönlichkeitsstörung, die aus der Kindheit herrühre, sei nicht fähig, beabsichtigte Handlungen auch wirklich umzusetzen und zeige eine gewisse Verantwortungslosigkeit.
Der Ehemann der Getöteten, der seine Frau noch am Ort der Tragödie sehen musste, trat als Nebenkläger auf. Während die Anwälte redeten, holte er mit zittrigen Fingern Notizzettel aus seiner Aktentasche oder schüttelt vehement mit dem Kopf, irgendwann verließ er kurz den Raum. „Die Plädoyers der Verteidigung waren schwer auszuhalten für mich“, erzählte er später. Ihm gegenüber, wo die Angeklagten sitzen, kaute man gelassen Kaugummi. „Es hätte gut getan, eine kleine emotionale Regung zu sehen“, meint der Witwer. Mit dem Urteil zeigte er sich zufrieden, betonte aber, dass er immer noch an den Folgen des Unglücks leide. „Es sieht vielleicht so aus, als ob ich das nach einem Jahr ganz gut weggesteckt habe, aber das ist keineswegs der Fall.“
„Wir wollen verhindern, dass so etwas noch einmal vorkommt.“Der Vorsitzende Richter am Amtsgericht Sigmaringen