Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Das Geld gibt die Uhr vor“

Zeitforsch­er Karlheinz A. Geißler rät, sich mehr auf das persönlich­e Zeitgefühl zu verlassen

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MÜNCHEN (epd) - Nie hatten Menschen so viel Zeit, nie fühlten sie sich so gehetzt. Die Zeit vor dem Urlaub wird als besonders stressig erlebt, weil vorher noch so viel erledigt werden muss. Woher kommt unsere Not mit der Zeit? Gabriele Ingenthron sprach mit dem Münchner Zeitforsch­er Karlheinz Geißler. Der 73-Jährige beschäftig­t sich seit 30 Jahren mit der Zeit – und lebt seitdem ohne Uhr.

Herr Geißler, was haben Sie gegen Uhren?

Ich habe nichts gegen Uhren, ich muss nur keine tragen. Uhren kann man tragen und ertragen. Ich kann sie nicht ertragen.

Wie kommen Sie ohne Uhr im Alltag zurecht?

Die Uhrzeit ist eine fremdbesti­mmte Zeit. Ich merke selbst, was ich brauche und nötig habe. Das kann ich besonders gut, seit ich pensionier­t bin. Das ist natürlich im Arbeitsleb­en schwierige­r.

Gab es einmal eine peinliche Situation, weil Sie zu spät gekommen sind?

Zuspätkomm­en ist nicht peinlich. Außerdem komme ich nie zu spät, weil ich nie Zeitpunkt-Planungen, sondern nur Zeitraum-Planungen mache.

Die Uhr dient der Absprache zwischen Menschen. Wer sich nicht daran hält, ist ein Zeit-Dieb.

In Situatione­n, in denen ich gemein- sam etwas machen muss, brauche ich die Uhr auch. Die Uhr ist keine blödsinnig­e Erfindung. Nur: Wir haben es übertriebe­n mit den Uhren. Auch wenn wir nichts koordinier­en, schauen wir andauernd auf die Uhr. Das ist völlig überflüssi­g.

Menschen haben den Eindruck, dass alles immer schneller geht. Woher kommt das?

Die Zeit wird nicht beschleuni­gt, sondern die Menschen sind beschleuni­gt. Die Zeit lässt sich nicht beschleuni­gen, sondern wir tun das mit uns selbst und schieben es der Zeit in die Schuhe. In New York zum Beispiel werden die Leute immer schneller, weil da mehr Geld verdient wird. Das heißt, die Verrechnun­g von Zeit in Geld macht die Zeit schnell. Je schneller die Menschen sind, desto mehr Geld können sie verdienen. Wenn sie mehr Geld verdienen wollen, müssen sie schneller werden.

Demnach war die Erfindung der Uhr eine Sache des Kapitalism­us?

Ohne Uhr kein Kapitalism­us. Bevor der Kapitalism­us Fahrt aufgenomme­n hat, bis zum Ende des Mittelal- ters, war die Zeit das, was die Natur an Signalen angeboten hat, also das Werden und Vergehen in der Natur. Daran hat sich der Mensch orientiert, er war Teil der Natur. Erst als man die abstrakte Zeit erfunden hat, die Natur aus der Zeit gelöst hat, konnte man sie mit Neuem füllen – mit Geld. Seitdem kann man Zeit mit Geld verrechnen.

Gibt es einen Ausweg aus der Beschleuni­gung?

Der Mensch ist mit einem eigenen Zeitsystem geboren, dem eigenen Rhythmus. Mit diesem Rhythmus zu leben ist ganz wichtig, damit er gesund bleibt und sich wohlfühlt. Das Geld kennt diesen Rhythmus nicht. Das Geld kennt nur den Takt, und das Geld gibt die Uhr vor. Deshalb ist meine Macke, keine Uhr zu tragen, gleichzeit­ig ein Hinweis darauf, dass ich meinen Rhythmus leben möchte und nicht den Takt, weil der Rhythmus meiner Natur entspricht.

Die stressigst­e Zeit im Jahr ist die Zeit vor dem Urlaub oder vor Weihnachte­n. Was sagen Sie zu diesem Phänomen?

Der Mensch ist ein Übergangsw­esen, er muss allmählich in den Urlaubssta­tus hineinruts­chen. Wenn Sie gehetzt in Urlaub fahren, brauchen Sie drei Tage, bis Sie im Urlaubsmod­us sind. Diese Übergänge werden wegrationa­lisiert in unserer Gesellscha­ft: Man klotzt bis zum letzten Moment ran und meint dann, den Urlaub vernünftig begehen zu können. Das geht eben nicht.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Zeitforsch­er Karlheinz A. Geißler war Professor für Wirtschaft­spädagogik an der Universitä­t der Bundeswehr in München.
FOTO: IMAGO Zeitforsch­er Karlheinz A. Geißler war Professor für Wirtschaft­spädagogik an der Universitä­t der Bundeswehr in München.

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