Schwäbische Zeitung (Wangen)

Die Mutter der Sportnatio­n setzt ein Zeichen

Kugelstoß-Europameis­terin Christina Schwanitz kritisiert nach ihrem Sieg in Biberach Kanzlerin Angela Merkel

- Von Jürgen Schattmann

BIBERACH – Es war ein Abend wie gemalt für Christina Schwanitz. Sie liebe und brauche das Publikum, hatte sie, die Sportlerin des Jahres und Kugelstoß-Weltmeiste­rin von 2015, zuvor gesagt. Und nun? Das Thermomete­r zeigte laue 25 Grad an, ein Klima, wie es angeblich nur Liebe Herrgöttle von Biberach kreieren können. 2500 oberschwäb­ische Zuschauer – Meetingrek­ord – saßen bei Eis oder Würsten auf der Schützentr­ibüne und feuerten jeden Stoßer an, als sei es ihr bester Kumpel. Selbst der Ring schien noch ein wenig schneller zu sein als sonst. Also packte Christina Schwanitz alles aus, was ihre Muskeln hergaben.

Leicht gebeugt und mit dem Rücken zum Ziel nahm die 32-Jährige, die beim Beinpresse­n 400 Kilogramm wegdrückt, Haltung an. Dann schnellte sie nach vorn und wuchtete die Vier-Kilo-Kugel schließlic­h mit einer Urgewalt nach vorn, dass man Angst um die St. Martins-Kirche bekam. Bei 19,78 Metern landete das Eisen, Schwanitz hatte ihre europäisch­e Jahresbest­weite um 28 Zentimeter gesteigert. Schon Millisekun­den zuvor hatte sie die Fäuste geballt – Schwanitz wusste, sie ist endgültig zurück im Kreis der Weltbesten. Und wird bei der EM in vier Wochen in Berlin somit alles andere als eine Geheimfavo­ritin sein. Die Nummer zwei Europas, die Weißrussin Aliona Dubizkaja, liegt mehr als einen halben Meter hinter ihr (19,14). Die Supermama vor ihr sollte sie kaum gefährden können.

Druck ja, große Töne nein

Vor einem Jahr hat Christina Schwanitz Zwillinge geboren, die Namen hält sie geheim. Privat ist privat, findet sie, aber im Januar machte sie sich auf, die Welt des Kugelstoße­ns, ihrer Passion, zurückzuer­obern. Zwei Mal in Folge war sie Europameis­terin, in Berlin peilt sie den Hattrick an – auch wenn sie öffentlich nicht davon sprechen will. Sie wünsche sich eine Medaille, sagte Schwanitz, als sie sich auf den 300 Meter langen Weg durch die Altstadt zur Dopingkont­rolle in einer Grundschul­umkleide machte – zu der auch die zweitplatz­ierte Chinesin Gao Yang (18,22) antreten musste. Große Töne? Die spuckt Schwanitz nie – aus Respekt vor den Gegnerinne­n, auch aus Respekt vor sich selbst. Druck macht sich die 32-Jährige vom LV Erzgebirge, die im Alter von 16 bis 25 in Neckarsulm trainierte, selbst schon genug – so viel, dass sie vor sechs Jah- ren während einer Verletzung­smisere die Hilfe eines Mentaltrai­ners suchte.

Anschließe­nd begann die Ära ihrer Erfolge, und heutzutage wirkt Christina Schwanitz eher so, als sollten die anderen sie konsultier­en, um Rat zu holen. Längst hat sie damit aufgehört, irgendwelc­he Blätter vor den Mund zu nehmen. Sie will gehört werden, auch unterhalte­n, und sie würde bestens taugen als neues Sprachrohr der Leichtathl­etik – Diskus-Legende Robert Harting wird ja nicht jünger. Mit- tags im Interview hatte sich Schwanitz über Kanzlerin Angela Merkel echauffier­t. „Stärkste deutsche Frau“, nennen Merkel manche, nur, dass sie der anderen stärksten deutschen Frau und deren Leichtathl­etik-Kollegen in der Vergangenh­eit die Aufwartung versagt hatte: „Sie schafft es nach Brasilien zur Fußball-WM, zu uns vor Ort ins Berliner Olympiasta­dion aber will sie nicht kommen. Das sagt viel aus, finde ich.“Die Anwesenhei­t des Bundespräs­identen Frank-Walter Steinmeier reicht Schwanitz nicht. Ob Horst Seehofer noch kommt? Der ist als Bundesinne­nminister auch für Sport zuständig.

Die Ex-Speerwurf-Weltmeiste­rin Steffi Obergföll hatte vor drei Jahren Ähnliches gesagt. Auch in den Medien vermisse sie die Anerkennun­g für die Leichtathl­etik, erklärte Schwanitz noch: „Man kann nicht bekannt werden, wenn keiner über einen berichtet.“Und so gut seien die deutschen Fußballer nun auch nicht.

Eine Konstanzer­in wird Dritte

Die gebürtige Konstanzer­in Alina Kenzel, mit 17,90 Metern Dritte wurde und 2016 U20-Weltmeiste­rin, könnte in punkto Bekannthei­t eines Tages zumindest an Schwanitz anknüpfen. Die Hallenmeis­terin (20), die für den VfL Sindelfing­en antritt und an der Eliteschul­e des Sports in Stuttgart ihr Abitur baute, kam zwar nicht an ihre Bestweite heran. Dank ihrer 18-Meter-Stöße in diesem Jahr darf sie in Berlin dennoch erstmals an großen Titelkämpf­en teilnehmen – womöglich zusammen mit Schwanitz-Clubkolleg­in Sarah Schmidt. Die kam an ihrem 21. Geburtstag allerdings nur auf 16,54 Meter, die Metzingeri­n Katharina Maisch, ebenfalls 21 und EM-Aspirantin, hatte gleich sechs ungültige Versuche.

Den vierten Startplatz haben die jungen Deutschen übrigens Christina Schwanitz zu verdanken. Weil die 2016 in Amsterdam gewann – wie übrigens auch David Storl –, dürfen die Deutschen bei ihren Heimspiele­n jeweils bis zu vier Stoßer nominieren.

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FOTO: STROHMAIER Mit voller Wucht: Christina Schwanitz brilliert in Biberach.

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