In Frankreichs westlichstem Westen begeistern die Erben Hinaults
Wie ein Dorf in der Bretagne die Tour de France zelebriert – Für einen Tag wird Sarzeau zum Mittelpunkt der Radsportwelt
SARZEAU- Die Begeisterung ist unbeschreiblich, hunderte Fans feuern den Fahrer und seine Begleiterin an: „Langsamer, langsamer!“Das feuerwehrrote Fahrzeug, gesponsert von einem französischen MineralwasserKonzern, stoppt, aus einem dicken Schlauch spritzt das Team Wasser auf die wartende, schwitzende Menge: Noch zwei Stunden, bis die ersten Fahrer an diesem Dienstag die vierte Etappe der diesjährigen Tour de France in Sarzeau in der südlichen Bretagne beenden. Noch zwei Stunden bei gleißender Sonne ohne Schatten, sodass die Menge jede Abkühlung lautstark begrüßt.
Die Begeisterung in der Bretagne – wo die Menschen für die hier angesiedelten Comicfiguren Asterix und Obelix große Sympathien hegen – für den Radsport ist trotz aller Dopingskandale nach wie vor groß: Jede zehnte französische Radsportveranstaltung findet im westlichsten Westen Frankreichs statt. Hier sind Radsportlegenden wie Bernard Hinault aufgewachsen. Und in diesen Tagen sind die Franzosen für jede Ablenkung dankbar. Gerade erst haben Umfragen bestätigt, dass Präsident Emmanuel Macron als „Präsident der Reichen“wahrgenommen wird, obwohl er in seinem ersten Amtsjahr zahlreiche Reformen, beispielsweise der Eisenbahnen, durchgezogen hat. Die Sommerpause mit der FußballWM und der Tour de France kommt gerade recht.
8000 Einwohner, 100 000 Fans
An der Strecke und im Umkreis von 60, 70 Kilometern ist die Begeisterung zu spüren: „Heute essen bei uns die Organisatoren der Tour de France!“Wie Michèle und Michel Rochuon, die im bretonischen Ferienort Arradon das Restaurant „Le Medaillon“führen, freuen sich tausende Breto- nen auf die drei Bretagne-Tage der Tour de France: „2000 Betten sind in der ganzen Bretagne für Fahrer, Betreuer, Funktionäre, Journalisten und Techniker gebucht“, weiß Michèle Rochuon, „wir sind stolz, dass wir drei Etappen bekommen haben.“Mehr als 100 000 Fans werden erwartet, die in den Etappenstädten Sarzeau, Lorient, Quimper, Brest und Mûr de Bretagne wie auch entlang der Strecke dem Peloton zujubeln dürften. Das größte Problem in diesem Jahr: „Selfie-Fotografen, die sich für ein gutes Motiv dem Feld in den Weg stellen, abdrücken und erst im letzten Moment zur Seite springen“, sagt ein Polizeisprecher.
Aus dem Selfie-Alter heraus sind Lisiane und Philippe LeRuyet, die mit ihrem Wohnmobil der Tour de France seit 2015 und besonders ihrem Idol, dem französischen Radrennfahrer Warren Barguil, folgen. Barguil hatte bei der Tour 2017 die Bergwertung und zwei Etappen gewonnen. Schon am Sonntag haben sich die LeRuyets, beide in den Sechzigern, in der Nähe des 8000-Einwohner-Städtchens Sarzeau auf einem zum WohnmobilStellplatz umgenutzten Acker taktisch günstig platziert, sie wollen den Sprint auf einer der längsten Geraden der Tour 2018 über vier Kilometer vor dem Ziel verfolgen. Die Hitze bei 30 Grad im Schatten, der Staub auf dem abgemähten Getreidefeld und die endlosen Stunden vor der Ankunft: „Uns ist das alles egal“, sagt Lisiane LeRuyet, „für die paar Sekunden, in denen das Feld mit Warren Barguil an uns vorbeirast, tun wir alles.“Barguil selbst sieht seine großen Stunden – obwohl er Bretone ist – erst auf den Gebirgsetappen: „Bis dahin schone ich mich.“
Ähnlich wie das Ehepaar LeRuyet haben sich Fahrrad-Clubs, Hausbesitzer, Polizei, Rettungsdienste und vor allem Geschäftsleute entlang der Strecke auf den Ansturm der Fans vorbereitet. Mannschaften, vornehmlich die Alten Herren, machen seit Tagen die Landstraßen unsicher. Blauweiß-rote Nationalfahnen wie sonst nur am Nationalfeiertag, dem 14. Juli, schmücken die Fassaden und können gleich bis zum Samstag hängenbleiben. Und: Die in Frankreich allgegenwärtigen Kreisverkehre in der ganzen Bretagne sind nicht nur neu bepflanzt worden, auch haben offensichtlich alle Bretonen ihre alten Fahrräder aus dem Keller geholt, grell lackiert und zu Skulpturen zusammengestellt.
Werbung für den Tourismus
Der Stolz der fünf bretonischen Etappenstädte, die in diesem Jahr die Tour de France begrüßen können, ist verständlich: 1000 der 35 000 französischen Städte und Gemeinden bewerben sich jedes Jahr bei Tour-deFrance-Direktor Christian Prudhomme, gut 30 Orte erhalten den Zuschlag. „Sportereignisse wie die Olympischen Spiele oder die Fußballweltmeisterschaft werden wir nie bekommen“, weiß David Lappartient, Bürgermeister von Sarzeau, „aber das drittgrößte Sportevent der Welt, die Tour de France, können wir wenigstens für ein paar Stunden hierher holen.“Fünf Jahre lang musste Lappar- tient bei den Tour-Organisatoren Überzeugungsarbeit leisten – obwohl er gleichzeitig Präsident des Internationalen Radsport-Verbandes UCI ist und somit über beste Verbindungen verfügt: „Die Menschen hier sind einfach stolz.“Lappartient hofft auf Werbung für die vom Tourismus geprägte Region: „Es wird sicher schöne Luftbilder vom Golfe du Morbihan, geprägt durch den Atlantik, das Moor, die Strände und die Inseln, geben.“
Während Lappartient spricht, steigert sich die Begeisterung: Zwei Franzosen und zwei Belgier führen das Feld an. „Die gleiche Konkurrenz haben wir heute Abend bei der WM“, kommentieren die Zuschauer. Doch am Ende, im Massensprint, gewinnt der Kolumbianer Fernando Gaviria vor Peter Sagan aus der Slowakei und dem Deutschen André Greipel. Dass der Belgier Greg van Avermaet weiterhin das Gelbe Trikot des Spitzenreiters trägt, mag niemand als schlechtes Omen für das Halbfinale werten: Dafür war der Tag von Sarzeau einfach zu begeisternd.