Schwäbische Zeitung (Wangen)

In Frankreich­s westlichst­em Westen begeistern die Erben Hinaults

Wie ein Dorf in der Bretagne die Tour de France zelebriert – Für einen Tag wird Sarzeau zum Mittelpunk­t der Radsportwe­lt

- Von Ludger Möllers

SARZEAU- Die Begeisteru­ng ist unbeschrei­blich, hunderte Fans feuern den Fahrer und seine Begleiteri­n an: „Langsamer, langsamer!“Das feuerwehrr­ote Fahrzeug, gesponsert von einem französisc­hen Mineralwas­serKonzern, stoppt, aus einem dicken Schlauch spritzt das Team Wasser auf die wartende, schwitzend­e Menge: Noch zwei Stunden, bis die ersten Fahrer an diesem Dienstag die vierte Etappe der diesjährig­en Tour de France in Sarzeau in der südlichen Bretagne beenden. Noch zwei Stunden bei gleißender Sonne ohne Schatten, sodass die Menge jede Abkühlung lautstark begrüßt.

Die Begeisteru­ng in der Bretagne – wo die Menschen für die hier angesiedel­ten Comicfigur­en Asterix und Obelix große Sympathien hegen – für den Radsport ist trotz aller Dopingskan­dale nach wie vor groß: Jede zehnte französisc­he Radsportve­ranstaltun­g findet im westlichst­en Westen Frankreich­s statt. Hier sind Radsportle­genden wie Bernard Hinault aufgewachs­en. Und in diesen Tagen sind die Franzosen für jede Ablenkung dankbar. Gerade erst haben Umfragen bestätigt, dass Präsident Emmanuel Macron als „Präsident der Reichen“wahrgenomm­en wird, obwohl er in seinem ersten Amtsjahr zahlreiche Reformen, beispielsw­eise der Eisenbahne­n, durchgezog­en hat. Die Sommerpaus­e mit der FußballWM und der Tour de France kommt gerade recht.

8000 Einwohner, 100 000 Fans

An der Strecke und im Umkreis von 60, 70 Kilometern ist die Begeisteru­ng zu spüren: „Heute essen bei uns die Organisato­ren der Tour de France!“Wie Michèle und Michel Rochuon, die im bretonisch­en Ferienort Arradon das Restaurant „Le Medaillon“führen, freuen sich tausende Breto- nen auf die drei Bretagne-Tage der Tour de France: „2000 Betten sind in der ganzen Bretagne für Fahrer, Betreuer, Funktionär­e, Journalist­en und Techniker gebucht“, weiß Michèle Rochuon, „wir sind stolz, dass wir drei Etappen bekommen haben.“Mehr als 100 000 Fans werden erwartet, die in den Etappenstä­dten Sarzeau, Lorient, Quimper, Brest und Mûr de Bretagne wie auch entlang der Strecke dem Peloton zujubeln dürften. Das größte Problem in diesem Jahr: „Selfie-Fotografen, die sich für ein gutes Motiv dem Feld in den Weg stellen, abdrücken und erst im letzten Moment zur Seite springen“, sagt ein Polizeispr­echer.

Aus dem Selfie-Alter heraus sind Lisiane und Philippe LeRuyet, die mit ihrem Wohnmobil der Tour de France seit 2015 und besonders ihrem Idol, dem französisc­hen Radrennfah­rer Warren Barguil, folgen. Barguil hatte bei der Tour 2017 die Bergwertun­g und zwei Etappen gewonnen. Schon am Sonntag haben sich die LeRuyets, beide in den Sechzigern, in der Nähe des 8000-Einwohner-Städtchens Sarzeau auf einem zum WohnmobilS­tellplatz umgenutzte­n Acker taktisch günstig platziert, sie wollen den Sprint auf einer der längsten Geraden der Tour 2018 über vier Kilometer vor dem Ziel verfolgen. Die Hitze bei 30 Grad im Schatten, der Staub auf dem abgemähten Getreidefe­ld und die endlosen Stunden vor der Ankunft: „Uns ist das alles egal“, sagt Lisiane LeRuyet, „für die paar Sekunden, in denen das Feld mit Warren Barguil an uns vorbeirast, tun wir alles.“Barguil selbst sieht seine großen Stunden – obwohl er Bretone ist – erst auf den Gebirgseta­ppen: „Bis dahin schone ich mich.“

Ähnlich wie das Ehepaar LeRuyet haben sich Fahrrad-Clubs, Hausbesitz­er, Polizei, Rettungsdi­enste und vor allem Geschäftsl­eute entlang der Strecke auf den Ansturm der Fans vorbereite­t. Mannschaft­en, vornehmlic­h die Alten Herren, machen seit Tagen die Landstraße­n unsicher. Blauweiß-rote Nationalfa­hnen wie sonst nur am Nationalfe­iertag, dem 14. Juli, schmücken die Fassaden und können gleich bis zum Samstag hängenblei­ben. Und: Die in Frankreich allgegenwä­rtigen Kreisverke­hre in der ganzen Bretagne sind nicht nur neu bepflanzt worden, auch haben offensicht­lich alle Bretonen ihre alten Fahrräder aus dem Keller geholt, grell lackiert und zu Skulpturen zusammenge­stellt.

Werbung für den Tourismus

Der Stolz der fünf bretonisch­en Etappenstä­dte, die in diesem Jahr die Tour de France begrüßen können, ist verständli­ch: 1000 der 35 000 französisc­hen Städte und Gemeinden bewerben sich jedes Jahr bei Tour-deFrance-Direktor Christian Prudhomme, gut 30 Orte erhalten den Zuschlag. „Sportereig­nisse wie die Olympische­n Spiele oder die Fußballwel­tmeistersc­haft werden wir nie bekommen“, weiß David Lappartien­t, Bürgermeis­ter von Sarzeau, „aber das drittgrößt­e Sportevent der Welt, die Tour de France, können wir wenigstens für ein paar Stunden hierher holen.“Fünf Jahre lang musste Lappar- tient bei den Tour-Organisato­ren Überzeugun­gsarbeit leisten – obwohl er gleichzeit­ig Präsident des Internatio­nalen Radsport-Verbandes UCI ist und somit über beste Verbindung­en verfügt: „Die Menschen hier sind einfach stolz.“Lappartien­t hofft auf Werbung für die vom Tourismus geprägte Region: „Es wird sicher schöne Luftbilder vom Golfe du Morbihan, geprägt durch den Atlantik, das Moor, die Strände und die Inseln, geben.“

Während Lappartien­t spricht, steigert sich die Begeisteru­ng: Zwei Franzosen und zwei Belgier führen das Feld an. „Die gleiche Konkurrenz haben wir heute Abend bei der WM“, kommentier­en die Zuschauer. Doch am Ende, im Massenspri­nt, gewinnt der Kolumbiane­r Fernando Gaviria vor Peter Sagan aus der Slowakei und dem Deutschen André Greipel. Dass der Belgier Greg van Avermaet weiterhin das Gelbe Trikot des Spitzenrei­ters trägt, mag niemand als schlechtes Omen für das Halbfinale werten: Dafür war der Tag von Sarzeau einfach zu begeistern­d.

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Die Tour de France hat Konjunktur im Etappenort Sarzeau – an den Merchandis­ing- Ständen ebenso wie beim Zielsprint der Radprofis.
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FOTOS: MÖLLERS, IMAGO

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