„Gefährlichkeit von Ratten wird völlig unterschätzt“
Schädlingsbekämpfer Martin Pohl warnt vor Ausbreitung der Nager in Ravensburg – Biomüll ist ein Problem
RAVENSBURG - In Ravensburg wurden in jüngster Zeit mehrfach Ratten gesehen: Sowohl in der Nähe der Bahnlinien als auch in der Schützenstraße klagen Anwohner und Passanten über die schädlichen Nager, die gefährliche Krankheitserreger wie das Hanta-Virus übertragen können. Über das Thema sprach Annette Vincenz mit Martin Pohl, der bestellter Sachverständiger ist und ein Unternehmen für Schädlingsbekämpfung in Ravensburg-Dürnast betreibt.
Nimmt die Zahl der Ratten Ihrer Erfahrung nach zu?
Ja. Wir haben zunehmend messbar mehr Meldungen und Aufträge zum Thema Wanderrattenbefall. Dies jedoch überwiegend in der kalten Jahreszeit. Ratten sind sehr geschickt, wenn es darum geht, neue Bereiche zu erschließen – sie klettern, schwimmen und tauchen gut und sind im Notfall bereit, auch als Raubtier aufzutreten und jagen dann Tauben, Hühner oder Enten. Diese Tiere sind findig und kennen – wenn es drauf ankommt – kaum Barrieren. Zur Not nagt man sich einen Weg frei...
Ist es alarmierend, dass man die Tiere in jüngster Zeit auch tagsüber sieht?
Ja. Ratten sind nachtaktive, scheue Tiere. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Werden Sichtungen tagsüber wahrgenommen, dann ist das meines Erachtens ein Signal für völlige Überpopulation mit Verdrängung – oder die Tiere sind krank und angeschlagen.
Welche Gründe gibt es für die unheilvolle Vermehrung in jüngster Zeit?
Erstens: Die Entsorgung von Lebensmittelresten über die Kanalisation beziehungsweise Toilette – ich nenne das das Sushi-Bar-Prinzip, bei dem sich die Tiere am Kanalrand bedienen können. Zweitens: Die unsachgemäße Grünmüllzwischenlagerung in sogenannten Komposthaufen. Sie lockt Ratten an die Häuser, die dann darunter ihre Rattenburgen anlegen. Drittens: Die durch Polizeiverordnung eigentlich verbotenen Vogel- oder Wildtierfütterungen – sogar auf öffentlichen Plätzen –, dadurch werden ebenfalls Ratten angelockt. Im Burachgebiet fanden sich ganze abgeschälte Lyoner, die von selbst ernannten Naturfreunden in den Büschen abgelegt wurden, für die Füchse. Viertens: Biomülltonnen lagern bis zu zwei Wochen an den Straßen bis zur Entsorgung, und die Ratten bedienen sich daran. Eine wöchentliche Leerung brächte Vorteile. Ich würde mir zudem mehr Aktivität seitens der Kommunen bei Bekämpfungsmaßnahmen wünschen.
Wie werden die Ratten in Städten denn konkret bekämpft?
Kommunen halten sich meines Erachtens bezüglich der bewährten Beköderungsmethoden im Kanalnetz sehr zurück, denn unter anderem die neu geschaffene Gesetzeslage bringt gewisse Unsicherheiten. Zudem ist der Erwerb wirksamer Nagerbekämpfungspräparate und deren Einsatz dem Schädlingsbekämpfer vorbehalten. In manchen Kommunen (zum Beispiel Überlingen) ist der Einsatz der bewährten Antikoagulantien (Anm. d. Red: Gerinnungshemmer, die Ratten verbluten lassen) gänzlich untersagt, in anderen nur eingeschränkt möglich. Ein weiteres Problem: Mit der weltweiten Logistik verteilen sich diverse Nagerstämme über die gesamte Welt und mischen sich mit vorhandenen Stämmen. So gelangen auch Stämme in unsere Breiten, die bereits Resistenzen gegen einige Antikoagulantien vorweisen und durch Giftköder nicht mehr bekämpft werden können. Dieses Phänomen ist zunehmend zu beobachten.
Gibt es Witterungen oder sonstige Bedingungen, die für Ratten günstig sind?
Wanderratten leben im Erdbau – oft und gerne in der Nähe einer Futterstelle oder am Wasser, zum Beispiel einem Gartenteich. Ratten sind nachts immer unterwegs. Die Ratte hat sich an das Klima in unseren Breiten völlig angepasst. Auffällig ist, dass Wanderratten hauptsächlich in
der kalten Jahreszeit mehr in die Gebäude eindringen und dann auch näher an den Menschen rücken und dort wahrgenommen werden.
Otto Normalverbraucher kann keinen wirksamen Rattenköder im Geschäft mehr kaufen. Wie töten professionelle Schädlingsbekämpfer die Nagetiere?
Die neue Gesetzeslage legt die Bekämpfung von Nagern in die Hand der sachkundigen Schädlingsbekämpfer, und das ist auch gut so! Die wirksamen Präparate und Methoden sind Experten weiterhin zugänglich. Daher ändert sich an der Methodik grundsätzlich wenig. Unser Betrieb bemüht sich ohnehin, die Maßnahmen mit so wenig Gefahrstoffen wie möglich umzusetzen und die Gefährdung anderer Tiere oder Menschen auszuschließen. Wir haben neuerdings auch die Möglichkeit, neue wirksame Abdichttechniken für Gebäude, elektronische/mechanische Fanggeräte, Ortungssysteme mit nachtsichtbarem Spurenpuder, Suchhunde, Greifansitze, Gas und Repellentien einzusetzen. Im Kanalbereich gibt es ein neues Beköderungssystem mit schwimmenden Stationen.
Was kostet das für Privatpersonen oder Gewerbebetriebe?
Die Nennung eines Pauschalpreises ist insofern schwierig, weil die Anforderungen sehr unterschiedlich ausfallen können. Unsere Aufträge reichen vom Wohnklo mit Kochnische bis zur großen Fabrikhalle. Beim ersten Termin werden in der Regel die Köderboxen vom Kunden erworben. Das macht den ersten Termin etwas teurer. Danach erfolgt so lange im Wochentakt eine Nachbeköderung, bis kein Köder mehr angenommen wird und von einer Tilgung ausgegangen werden kann. Zum Abschluss wird der Bereich dekontaminiert, also die restlichen Köder entsorgt.
Was macht Ratten eigentlich so gefährlich und bekämpfenswert?
Nagetiere können stromführende Kabel anfressen und Brände auslösen. Wanderratten gehören in der Lebensmittelhygiene zu den gefürchtetsten Krankheitsüberträgern. Ihre Gefährlichkeit wird oft völlig unterschätzt. Neben den Schweden im Dreißigjährigen Krieg haben es nur die Flöhe der Ratten vermocht, ganze Landstriche auf Jahrzehnte nahezu völlig zu entvölkern. Haben wir das vergessen? Die Art der Übertragung von Krankheitserregern geschieht dabei in der Regel über zwei Wege: Zum einen durch Ausscheidungen wie Kot, Urin und Speichel. Die darin enthaltenen Bakterien und Viren werden vom Menschen bei Kontakt mit Haut, Schleimhäuten oder Atemwegen direkt aufgenommen und führen so zur Infektion. Daneben fungieren Nager auch als sogenannte Vektoren, indem sie zwar Krankheitserreger übertragen, jedoch nicht selber an ihnen erkranken. Hinzu kommt, dass bei einer Nagerplage nicht selten auch Parasiten wie zum Beispiel Flöhe und so weiter auf den Menschen übergehen und dabei auch Krankheiten (Bakterien/ Borrelienarten) übertragen können. Früher dominierte bei Ratten die gefürchtete Beulenpest (Schwarzer Tod), heute unter anderem die folgenden Krankheiten: Hantavirus, Leptospirose, Trichinose, Salmonellose, Fleckfieber (Typhus) und Partatyphus, Bandwürmer, Amöbenruhr, Tollwut, Rattenfieber und Tuberkulose. Weltweit wird außerdem etwa ein Viertel bis ein Drittel der Lebensmittelvorräte durch Nager ungenießbar.