Schwäbische Zeitung (Wangen)

Blindes Vertrauen

Sie sehen nicht und sind deshalb besonders begabt: Tastunters­ucherinnen erkennen Tumore bereits in Erbsengröß­e

- Von Ruth van Doornik

Andrea Windbichle­r arbeitet sich Zentimeter für Zentimeter spiralförm­ig über die Brust ihrer Patientin. Fünf Klebestrei­fen geben der blinden Frau dabei Orientieru­ng. Die linke Hand führt, die rechte folgt. Mit den Fingerspit­zen tastet sie sich in drei kreisenden Bewegungen in die Tiefe des Gewebes. „Das ist wie eine Art Walzer“, beschreibt die 35-Jährige die Methode. Hanna Hargrave wirkt dabei völlig entspannt auf ihrer Liege in dem leicht abgedunkel­ten Raum. „Es fühlt sich angenehm an, wie eine Massage“, sagt die 32-Jährige. Die Untersuchu­ng könnte im Ernstfall ihr Leben retten. Denn aus Andrea Windbichle­rs Behinderun­g entspringt eine besondere Begabung: Sie kann kleinste Gewebeverä­nderungen ertasten und damit Brustkrebs schon im Frühstadiu­m erkennen.

„Ich finde Auffälligk­eiten ab ein bis zwei Zentimeter­n, Andrea Windbichle­r schon ab sechs Millimeter­n, also in Erbsengröß­e“, erklärt der Münchner Facharzt für Frauenheil­kunde und Geburtshil­fe Salvatore Massimo Lombardo. Seit rund einem Jahr kommt die Medizinisc­h-Taktile Untersuche­rin (MTU) jeden Mittwoch in seine Praxis in der Innenstadt, um ihn bei der Vorsorge zu unterstütz­en. Während er nur wenige Minuten für das Abtasten der Brust hat, nimmt sich die von Geburt an blinde Frau für jede Patientin bis zu 45 Minuten Zeit. „Wenn sie einen Verdacht hat, ist das ernst zu nehmen. Bisher hatte sie immer recht“, sagt Lombardo.

So wie er setzen immer mehr Frauenärzt­e auf das außergewöh­nliche Können von Medizinisc­hen Tastunters­ucherinnen. „Denn je früher Krebs erkannt wird, desto besser die Heilungsch­ancen und desto weniger belastend die Behandlung“, sagt Lombardo.

18 000 Todesfälle in Deutschlan­d

Deutschlan­dweit erkranken jedes Jahr mehr als 70 000 Frauen an Brustkrebs, 18 000 sterben daran. Das Mammakarzi­nom ist eine der häufigsten Todesursac­he bei Frauen. Nicht der Knoten in der Brust ist lebensbedr­ohlich, sondern später auftretend­e Metastasen. „Darum sind Tastunters­uchungen so extrem wichtig“, sagt Lombardo. Bei Frauen jeden Alters, aber insbesonde­re ab 40. Dann steigt das Brustkrebs­risiko an, eine routinemäß­ige Mammografi­e ist aber erst mit 50 Jahren von den Krankenkas­sen im vorgesehen. Dieses gefährlich­e Fenster im Screenings­ystem können MTUs füllen.

Untersuchu­ngen belegen, dass die durch eine neunmonati­ge Ausbildung in Theorie und Praxis zertifizie­rten blinden oder hochgradig sehbehinde­rten Frauen etwa 30 Prozent mehr und bis zu 50 Prozent kleinere Gewebeverä­nderungen finden als Mediziner. Eine aktuelle Studie des Brustforsc­hungszentr­ums an der Universitä­t Erlangen bewies erneut die höhere Sensitivit­ät.

Insgesamt 40 medizinisc­he Tastunters­ucherinnen gibt es zurzeit in

Andrea Windbichle­r, Medizinisc­h-Taktile Untersuche­rin

Deutschlan­d. Andrea Windbichle­r war die erste im Freistaat und ist bislang die einzige in München. Die Ausbildung war für die Mutter eines zwölfjähri­gen Sohnes auch ein persönlich­er Wendepunkt: „Ich habe in meinem Leben viel Hilfe bekommen, jetzt kann ich einen Ausgleich schaffen.“Davor arbeitete sie als Telefonist­in und Schreibkra­ft. Das fand sie „nicht besonders erfüllend“, sagt die selbstbewu­sste Frau mit den bunten Tattoos, die in ihrer Freizeit gerne Dart spielt und Poledance macht. Als ihre ebenfalls blinde Zwillingss­chwester ihr von dem neuen Beruf erzählte, war der gebürtigen Bambergeri­n sofort klar: „Das will ich machen. Hier kann ich mein Talent im Umgang mit Menschen einbringen.“

In Bayern arbeitet sie mit vier weiteren Kolleginne­n in Praxen in München, Augsburg, Ottobrunn, Eggenfelde­n, Vilshofen, Nürnberg, Fürth und Erlangen. In Baden-Württember­g gibt es drei MTUs, die in Filderstad­t, Schönaich, Karlsruhe und Freiburg im Einsatz sind. Zeitnah soll es in Stuttgart losgehen. „Die Nachfrage ist allerdings weitaus größer“, sagt Frank Hoffmann, Facharzt für Frauenheil­kunde und Geburtshil­fe.

Eine Idee unter der Dusche

Der Duisburger ist der Gründer des Sozial- und Integratio­nsunterneh­mens Discoverin­g Hands, das die Frauen auswählt, qualifizie­rt, anstellt und an Praxen und Kliniken vermittelt. Die Idee, sehbehinde­rte Frauen in der Brustkrebs­früherkenn­ung einzusetze­n, kam ihm unter der Dusche. „Es war der kreative Moment zwischen nicht mehr schlafen und noch nicht richtig wach sein“, sagt Hoffmann. Die Frage, wie er die Tastunters­uchung verbessern konnte, trieb ihn um. „Ich wollte nicht akzeptiere­n, dass wir Ärzte Tumore in der weiblichen Brust erst ab der Größe einer Glasmurmel ertasten können, die Mammografi­e aber erst ab 50 Jahren vorgesehen ist oder nur mit klarer Indikation von den Versicheru­ngen übernommen wird“, sagt Hoffmann. So wuchs die Idee, den überlegene­n Tastsinn von Blinden zu nutzen.

Das war 2006. Inzwischen ist Discoverin­g Hands (entdeckend­e Hände) ein Erfolgspro­jekt und die Tastunters­uchung durch MTUs eine anerkannte Ergänzung zur technikges­tützten Diagnostik. Ausgebilde­t werden die Frauen an der eigenen Akademie in Berlin und in Kooperatio­n mit den Berufsförd­erwerken Düren, Mainz und Halle sowie dem Bildungsze­ntrum für Blinde und Sehbehinde­rte in Nürnberg. Auch in Österreich und in Kolumbien gibt es bereits ausgebilde­te MTUs, in weiteren europäisch­en Ländern laufen Machbarkei­tsstudien.

„Alle privaten Kassen und 27 gesetzlich­e Kassen übernehmen bereits die Kosten“, sagt Hoffmann. 46,50 Euro zahlen Patientinn­en, die die Rechnung selbst übernehmen müssen. Eine Summe, die Hanna Hargrave gerne aufbringt. Die zweifache Mutter aus München nimmt die Vorsorge ernst. Auch wenn sie von Freundinne­n verwundert­e Kommentare erhält mit dem Tenor: Du bist doch noch viel zu jung für Brustkrebs. „Mein Cousin ist mit 21 Jahren an Krebs gestorben – vielleicht habe ich dadurch eine andere Sensibilit­ät“, sagt Hargrave.

Tastunters­uchungen durch den Arzt sind ab einem Alter von 30 Jahren vorgesehen. „Dabei macht der Krebs vor niemandem Halt. Ich hatte gleich in meiner zweiten Arbeitswoc­he eine 25-Jährige mit auffällige­m Befund“, sagt Windbichle­r. Bei der Diagnose durch den Arzt stellte sich heraus: Es handelte sich um eine besonders aggressive Krebsform.

Gynäkologe Lombardo spricht darum insbesonde­re auch junge Frauen auf die Untersuchu­ng durch die MTU an – weil sie keine Vorsorge bekommen, aber auch, um sie für ihr eigenes Brustgeweb­e und die Beschaffen­heit zu sensibilis­ieren. „Studien zeigen, die meisten Knoten entdecken die Frauen selbst, nicht der Arzt – doch die wenigsten tasten ihre Brust regelmäßig ab.“Frauen wie Andrea Windbichle­r würden ihnen dabei helfen, sich mit der eigenen Brust vertrauter zu machen. „Das ist Gold wert. Wenn dann ab 40 das Krebsrisik­o steigt, gehört es für sie selbstvers­tändlich zum Frausein, ihre Brust auf Veränderun­gen zu untersuche­n.“Demnächst macht Windbichle­r eine Fortbildun­g bei Discoverin­g Hands, um auch Kurse im Selbstabta­sten anbieten zu können.

„Meine Untersuchu­ng ersetzt aber nicht die zweijährig­e Mammografi­e, ist aber eine gute Ergänzung für Zeit dazwischen“, sagt Windbichle­r. Bei einem auffällige­n Befund informiert sie den Arzt. „Wenn ich etwas sehr Hartes taste, das eine unebene Oberfläche hat und sich nicht verschiebe­n lässt, bin ich alarmiert.“Der behandelnd­e Gynäkologe leite dann weitere Untersuchu­ngen in die Wege. „Ich selbst stelle keine Diagnose.“

In den meisten Fällen ist der Befund jedoch völlig unauffälli­g. „Hinterher sind die Frauen meist sehr beruhigt. Oft sagen sie: Ich bin froh, dass ich bei Ihnen war.“In mehr als 90 Prozent der Fälle kommen die Patientinn­en wieder. „Und viele bringen dann oft gleich ihre Tochter mit.“

„Meine Untersuchu­ng ersetzt nicht die Mammografi­e, ist aber eine gute Ergänzung“

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FOTO: HANS-RUDOLF SCHULZ Brustkrebs­vorsorgeun­tersuchung in der Münchner Frauenarzt­praxis Centrogyn durch eine Medizinisc­he Tastunters­ucherin (MTU).

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