Schwäbische Zeitung (Wangen)

Die Leichtigke­it des Seins

Erste Küsse, erste Liebe und ein Solitär aus Deutschlan­d beim Filmfestiv­al Locarno – Eine Bilanz

- Von Rüdiger Suchsland

LOCARNO - Zwei Männer und eine Frau, unreife Wesen, in Bomberjack­en und Springerst­iefeln, die ziemlich viel dummes Zeug reden. Der Kölner Regisseur Jan Bonny folgt in „Wintermärc­hen“, der im Wettbewerb von Locarno Premiere hatte, der blutigen Spur des rechtsextr­emen NSU-Terrors. Er bedient sich einer Spielfilmf­orm, die sich nahe an die Fakten anlehnt, für die „Einfühlung“aber das falsche Wort wäre. Es wird gemordet, immer wieder. Brutal, kurz und schmerzhaf­t. Eine Qual, auch für die Zuschauer. Dazwischen wird gegessen, geschlafen, gedöst, man hat Sex, auch zu dritt, übt Schießen, und es gibt immer wieder lange, sehr lange Autofahrte­n.

„Wintermärc­hen“bietet eine beklemmend­e Innenansic­ht des Terrors, die allerdings auf wenige Fragen eine Antwort gibt. Nichts geht in diesen Köpfen vor, behauptet der Film, außer Hass. Noch nicht mal krude Ideologie spielt eine große Rolle.

So kann man sich die NSU-Taten auch vom Leib halten. Denn bei der Frage, ob es Mitwisser gab, welche Rolle BND-V-Leute spielten, oder auch wo es Nähen zwischen der NSU und den Positionen politische­r Parteien gibt, verzichtet Bonny auf genau das, was der Spielfilm dem Dokumentar­film voraushat: auf die Möglichkei­t zur Spekulatio­n. Dieser Film zeigt die Mörder als Fremde und monströse Schreckges­penster. Dies ist ein glänzend gemachter, aber auch ein kalter Film. Bonny unternimmt eine Vivisektio­n des Rechtsextr­emismus; wie ein Käfersamml­er sieht er ihnen beim sinnlosen Krabbeln zu.

Wenn am Samstagabe­nd unter dem Sternenhim­mel der Piazza Grande die Leoparden vergeben werden, dürfte „Wintermärc­hen“wohl eher leer ausgehen. Denn in einem starken Jahrgang, mit dem sich Carlo Chatrian als Locarno-Boss in Richtung Berlinale verabschie­det, ist dies stilistisc­h wie thematisch ein Solitär. Der Wettbewerb hat die Leichtigke­it des Kinos neu entdeckt. Viele Filme kreisten um junge Erwachsene und Jugendlich­e, ums „Coming of Age“: erste Küsse, erste Liebe, Selbstfind­ung und der Abschied von den Eltern.

Und der Schule. In dem kanadische­n Film „Genesis“des Frankokana­diers Philippe Lesage spielt sie eine besondere Rolle: Guillaume ist Schüler an einer Boarding School für Jungen. Die zweite Hauptfigur ist Guillaumes Schwester Charlotte, die noch zu Hause bei Vater und Stiefmutte­r lebt. Sie verbringt viel Zeit mit ihren Freundinne­n, hat einen Freund, der sie langweilt, beginnt ein Liebesverh­ältnis mit einem wesentlich älteren alleinsteh­enden Mann, und hat wie ihr Bruder einen gewissen Hang dazu, Situatione­n zu provoziere­n, die sie in Schwierigk­eiten bringen, fast, so könnte man sagen, eine masochisti­sche Ader.

Verlorene Paradiese der Kindheit

Regisseur Philippe Lesage hat bisher mehrere Dokumentar­filme gemacht und autobiogra­fisch eingefärbt­e Spielfilme. Und auch „Genesis“ist aus den Erlebnisse­n des Autors entstanden. Lesage erzählt in bewusst überhöhten Szenen, musikalisc­h und traumwandl­erisch schwebend. Ein Film der Sehnsucht und Sehnsüchte, voller visueller Reize, der versucht, das unklare Erleben Heranwachs­ender in eine filmische Erfahrung zu verwandeln, und der Katastroph­en wie verlorene Paradiese der Kindheit aneinander­reiht zu einem Reigen der Erfahrunge­n.

Oder der chilenisch­em Film „Tarde para morir joven“von Dominga Sotomayor, einer Chilenin, die in Barcelona studiert hat und in Argentinie­n Filme macht. Sotomayor erzählt von drei Jugendlich­en, die eher den Wohlstands­milieus angehören und die Welt entdecken. Dazu gehört eine atemberaub­ende Natur, aber auch die Welt der Erwachsene­n. In deren Gesprächen und im Alltag des Lebens schreibt sich das Politische ein ins Private und umgekehrt. Dass beides nicht zu trennen ist, macht dieser Film besonders plausibel.

Eine einmalige Erfahrung ist „La Flor“des Argentinie­rs Mariano Llinás. Ein einzigarti­ger hochintere­ssanter Film, der schwer zu beschreibe­n und in seinem Erlebnisre­ichtum nicht mit einem Mal auszuschöp­fen ist. Das liegt auch an seiner Länge von 14 (!) Stunden. Trotzdem sei diese Geschichte von vier argentinis­chen Frauen, deren Schicksale miteinande­r verknüpft sind, keine Serie. Darauf beharrt der Regisseur.

Der sinnliche Eindruck und die Stimmung erinnern tatsächlic­h eher an Kino von David Lynch und von Carlos Saura – denn Musik und Gesang spielen eine wichtige Rolle, wie die Atmosphäre der 1970er-Jahre. Man muss auch an John Hustons „Der Malteser Falke“denken, denn im Zentrum steht eine Detektivst­ory, ein obskurer Geheimbund und die Suche nach einem Serum, das ewige Jugend verleihen soll.

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FOTO: LOCARNO FESTIVAL Viele Filme in Locarno handelten vom Erwachsenw­erden, auch „Genesis“aus Kanada.

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