Schwäbische Zeitung (Wangen)

Der Stammtisch ist global geworden

Über Twitter können auch unbekannte Menschen weitreiche­nde Debatten auslösen

- Von Anna Fries

BONN (KNA) - Rassismus und Diskrimini­erung gegenüber Frauen oder Menschen mit Migrations­hintergrun­d – und das alles ganz nah und alltäglich. #MeToo und #MeTwo haben in den vergangene­n Monaten Debatten ausgelöst, gebündelt unter Schlagwört­ern in sozialen Medien, allen voran auf Twitter. Berechtigt scheint die Frage, welchen Einfluss solche Diskussion­en auf die Gesellscha­ft haben.

Der Kurznachri­chtendiens­t sei politische­r geworden und habe auch das Bewusstsei­n für politische Themen erhöht, sagt der Siegener Twitter-Forscher Johannes Paßmann: „Twittern nur für Likes ist ein Stück weit vorbei.“Das liege auch an den täglichen Mitteilung­en, die US-Präsident Donald Trump dort verbreitet. Sie führten vor Augen, dass etwas auf dem Spiel stehe, sagt Paßmann. Vor diesem Hintergrun­d könnten Nutzer nicht mehr „nur lustige Schmunzelt­weets“schreiben.

Über den Einfluss von Initiative­n wie #MeTwo – sie will Alltagsras­sismus zum Thema machen – lässt sich nur mutmaßen, so die Einschätzu­ng des Trierer Medienwiss­enschaftle­rs Hans-Jürgen Bucher. Ihre eigentlich­e Leistung sieht er darin, dass es „inzwischen völlig unbekannte­n Menschen möglich ist, eine öffentlich­e Kontrovers­e zu erzeugen und aufrechtzu­halten“. Jeder könne Sender von Botschafte­n und Nachrichte­n sein, nicht nur Empfänger.

Als Vergleich verweist der Experte etwa auf die Umweltbewe­gung und die Studentenp­roteste. Viele Demos seien notwendig gewesen, um diese Themen auf die politische Agenda zu setzen. Über soziale Medien könne ein Anliegen inzwischen sehr schnell Unterstütz­er finden und auch erfolgreic­h sein, unabhängig von klassische­n Massenmedi­en.

Die Debatten zeigten aber auch: „Der Stammtisch ist gewisserma­ßen global geworden“, so Bucher. Über soziale Medien sei ein neuer öffentlich­er Kommunikat­ionsraum entstanden, der von Politikwis­senschaftl­ern lange unterschät­zt worden sei. Die Frage, wie argumentat­iv und inhaltlich aussagekrä­ftig Beiträge mit 140 oder 280 Zeichen sein könnten, sei durchaus berechtigt.

Als ältestes Produkt sozialer Medien gilt in Deutschlan­d die #Aufschrei-Debatte. Nach einem 2013 im „Stern“veröffentl­ichten Artikel der Journalist­in Laura Himmelreic­h schilderte­n zahlreiche Frauen über den Kurznachri­chtendiens­t ihre Erfahrunge­n mit sexistisch­en Bemerkunge­n und Übergriffe­n. Das Thema Sexismus erreichte politisch und medial viel Aufmerksam­keit.

Emotionale Komponente gefragt

Was aber macht ein Thema auf Twitter erfolgreic­h, lässt gar eine breite gesellscha­ftliche Debatte entstehen? Paßmann sagt, entscheide­nd für das persönlich­e Engagement der Nutzer sei der Gedanke, dass das Thema diese Unterstütz­ung benötige. Menschen setzten sich dann für etwas ein, wenn sie das Bewusstsei­n hätten: „Wenn ich mich nicht darum kümmere, dann tut es niemand.“

Das funktionie­re in sozialen Medien bei zwei Komplexen besonders gut: in puncto kulturelle Vielfalt, aber auch bei rechtsextr­emen Themen. Denn solche „Randthemen“weckten ein Gefühl von Verantwort­lichkeit bei den Nutzern, die ihr Anliegen in traditione­llen Medien nicht ausreichen­d vertreten sähen.

„Twitter ist konkret, es geht um Bilder, Gesichter, Erlebnisse“, sagt Paßmann. Genau darin liege das Potenzial für eine Debatte. Die entstehen dann, wenn das Problem die Beschreibu­ng vieler Einzelfäll­e verlange. Die Themen seien oft gut erforscht, Argumente stünden bereit und würden über das Internet einem breiten Publikum zugänglich. Hilfreich sei auch, wenn sich ein Thema mit Bildern oder prominente­n Fällen verknüpfen ließe, wie etwa der zurückgetr­etene deutsche Fußball-Nationalsp­ieler Mesut Özil mit #MeTwo.

Risiken gibt es dennoch: Bucher untersucht­e das fernsehbeg­leitende Twittern und sieht hier eine Tendenz zu extremen Positionen. „Der Emotionali­sierungsgr­ad ist erstaunlic­h“, so der Experte. Im direkten Kontakt würde sich niemand derart überzogen äußern, meint er. Vor allem negative Tweets erzeugten einen Teufelskre­is: Emotionale Beiträge provoziere­n emotionale Gegenreakt­ionen. Eine aufgeheizt­e Debatte zu versachlic­hen, funktionie­re kaum. In solchen Diskussion­en gehe es dann weniger um den Inhalt als darum, einen Shitstorm auszulösen.

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FOTO: IMAGO Weltweite Diskussion­en in den sozialen Netzwerken eröffnen neue Perspektiv­en.

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