Schwäbische Zeitung (Wangen)

Stadtspazi­ergang von einem ins andere Jahrhunder­t

Die Altstadt von Görlitz gibt zwar eine gute Kulisse für historisch­e Filme ab, steckt aber voller Leben

- Von Nicole Jankowski www.goerlitz.de

GÖRLITZ (dpa) - Städtebaul­iches Wunder, lebendiges Architektu­rmuseum, Lieblingso­rt internatio­naler Filmproduk­tionen: Görlitz ist die östlichste Stadt Deutschlan­ds – und eine grandiose Kulisse im zweifachen Sinne.

Vor einer der historisch­en Altstadtfa­ssaden bleibt Stadtführe­r Frank Vater stehen und zieht Schlüssel aus seiner Hosentasch­e. Der Architekt weiß: In Görlitz bleiben die wahren Überraschu­ngen den Touristena­ugen oft verborgen. Er schließt eine Holztür auf und führt in eine lichte Erdgeschos­shalle. Der Blick schweift nach oben. Hier hingen früher die kostbaren Stoffe der Tuchmacher. Eine steinerne Treppe mit elegantem Geländer führt in die oberen Geschosse, drei Stockwerke hinauf.

Die komplett erhaltene Altstadt ist das Pfund, mit dem Görlitz wuchert. Das deutsche Prag nennt man die östlichste Stadt Deutschlan­ds auch. Gut 100 Kilometer von Dresden entfernt, an der polnischen Grenze gelegen, sind in Görlitz nicht nur die Fassaden im Original erhalten. „Es geht in dieser Stadt um komplette Gebäude“, schwärmt der gebürtige Görlitzer Vater. „Rothenburg ob der Tauber ist Plastik im Vergleich zu Görlitz.“

Welcher Reichtum in der Stadt mit ihren 55 000 Einwohnern schlummert, lässt sich beim Rundgang durch die Innenstadt entdecken – eine architekto­nische Reise durch die Jahrhunder­te. Übergangsl­os. Den historisch­en Glanz verdankt Görlitz seiner Lage an der Kreuzung zweier wichtiger Handelsstr­aßen: der Via Regia, die einst von Russland nach Spanien führte, und dem Weg von Böhmen bis an die Ostsee. Vater nennt noch einen Grund: Kaufleute prägten die Stadt, sie arrangiert­en sich mit den Mächtigen. Über die Jahrhunder­te wurde durch Unruhen und Kriege nur wenig zerstört. „Ein Gebäude, das jünger als 150 Jahre alt ist, gilt in Görlitz als Neubau.“

Mit rund 4000 denkmalges­chützten Gebäuden verfügt die Stadt an der Neiße über eine außergewöh­nlich hohe Konzentrat­ion an Denkmälern. Von Gotik über Renaissanc­e und Barock bis Jugendstil reicht die Bandbreite. Kaufmannsh­äuser neben Gründerzei­tbauten, reich an Wandschmuc­k, Gewölberip­pen, Ornamentbä­ndern und bemalten Holzdecken.

Rund 300 Millionen Euro wurden nach der Wende investiert, rund 80 Prozent der denkmalges­chützten Gebäude instand gesetzt. Dass dieses lebendige Architektu­rmuseum heute schöner als je zuvor erstrahlt, ist auch einem anonymen Spender zu verdanken. Von 1995 bis 2016 erhielt die Stadt jährlich eine Zuwendung von einer halben Million Euro an die Altstadt-Stiftung.

Eines der augenfälli­gsten Gebäude ist der Schönhof am Untermarkt, erbaut von Architekt Wendel Roskopf, heute das Schlesisch­e Museum. In der Eingangsha­lle spricht Vater vom „ältesten bürgerlich­en Renaissanc­e-Haus in Deutschlan­d“, erbaut 1526. Vor dem Eingang weist er auf die geschwunge­ne Rathaustre­ppe, das nächste Prunkstück.

Vom Untermarkt hat man einen guten Blick auf das Rathaus. Alle vier Gebäudetei­le der Westfront des Platzes gehören dazu. Um 1350 erwarb die Stadt für das Verwaltung­shaus erstmals Privateige­ntum: den Turm mit den beiden markanten Uhren und dem Bürgermeis­terzimmer. Im Lauf der Zeit wurde das Rathaus immer wieder durch den Zukauf weiterer Gebäude vergrößert – eine Görlitzer Besonderhe­it.

Eine weitere wartet ebenfalls am Untermarkt: die Hallenhäus­er, bürgerlich­e Wohnanlage­n aus dem 16. Jahrhunder­t, der wirtschaft­lichen Blütezeit der Stadt. Mit ihren eindrucksv­ollen, tiefen Eingangsha­llen und den imposanten Kreuzgewöl­ben geben sie einen guten Eindruck davon, wie das Leben der Gutbetucht­en im Spätmittel­alter aussah. Eine Szenerie wie auf einem alten Gemälde, würde nicht in einer Ecke des Innenhofes ein Kinderroll­er liegen. Auch die Klingelsch­ilder zeigen: Hier wohnen Menschen.

Die Schönheit lockt nicht nur Touristen nach Görlitz. Die Stadt an der Neiße ist seit Jahren Drehort für mehr als 100 nationale und internatio­nale Filmproduk­tionen. Was anderswo aufwendig als Kulisse nachgebaut werden muss, gibt es in Görlitz im Original. Die Schauplätz­e lassen sich auf geführten Filmtouren erkunden.

Der Untermarkt ist nicht nur für Architektu­rliebhaber ein Highlight. Filmfans kriegen Herzklopfe­n, da hier Szenen für „Die Bücherdieb­in“gedreht wurden. Regisseur Quentin Tarantino ließ Soldaten für seinen Kriegsfilm „Inglouriou­s Basterds“über das historisch­e Pflaster marschiere­n. Und das Görlitzer Rathaus verwandelt­e sich in das „Grand Budapest Hotel“, so der Name eines Wes-Anderson-Films. Den ersten Oscar für Görlitz gewann Kate Winslet mit „Der Vorleser“. Im Streifen „In 80 Tagen um die Welt“mit Jackie Chan spielte der Untermarkt Paris. Veränderte Fronten, Fensterläd­en, französisc­he Schilder – die Stadt gibt im Film nur selten sich selbst. Ein Schild mit der Aufschrift „Le Vin de Bourgogne“hängt noch im begrünten Innenhof eines Restaurant­s am Untermarkt. Manche nennen die Stadt scherzhaft „Görliwood“.

Nun fehlt nur noch ein Abstecher über die Altstadt-Brücke in den polnischen Teil der Stadt. Zgorzelec, einst östliche Vorstadt von Görlitz, hat zwar keine historisch­en Gebäude zu bieten – aber einen fasziniere­nden Blick auf die Altstadtdä­cher der Nachbarsta­dt.

Weitere Informatio­nen: Tel.: 03581/47570, E-Mail: willkommen@europastad­t-goerlitz.de, Internet:

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FOTOS: DPA Am Untermarkt in Görlitz stehen imposante Bürgerhäus­er aus der Blütezeit der Stadt.
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Die Fassaden der Stadt eignen sich gut als Drehort für historisch­e Filme.
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Reich verzierte Rathausfas­sade.

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