Schwäbische Zeitung (Wangen)

Nirgendwo ganz zu Hause

Nobelpreis­träger V. S. Naipaul mit 85 Jahren gestorben – Seine Reiserepor­tagen haben ihn bekannt gemacht

- Von Klaus Blume

LONDON (dpa) - Der Mann hatte einen doppelten Migrations­hintergrun­d: Mit 18 Jahren zog V. S. Naipaul ins ferne England und sagte seinen Eltern auf Trinidad Lebewohl. Deren Vorfahren wiederum waren aus Indien auf die Karibikins­el gekommen. Brite, Inder und Karibe – die Erfahrung, verschiede­nen Kulturen anzugehöre­n und in keiner ganz zu Hause zu sein, prägte das Schaffen des Literaturn­obelpreist­rägers. Am Samstag starb V. S. Naipaul im Alter von 85 Jahren in London im Kreis seiner Familie. Er hinterläss­t seine Frau Nadira und eine Tochter.

Geboren wurde Sir Vidiadhar Surajprasa­d Naipaul 1932 in Chaguanas, einer Kleinstadt, rund eine halbe Autostunde südlich von Trinidads Hauptstadt Port of Spain. Naipauls Geburtshau­s, ein imposantes Gebäude im nordindisc­hen Baustil, steht noch. Das „Lion House“ist einer der Schauplätz­e in Naipauls wohl bekanntest­em Roman, „Ein Haus für Mr. Biswas“(1961, dt. 1981).

Hinter dem Romanhelde­n Biswas steckte Seepersad Naipaul, der früh verstorben­e Vater des Autors. Unter großen Mühen gelang es ihm, vom bettelarme­n Dörfler zum Journalist­en in der Hauptstadt aufzusteig­en und ein Haus in Port of Spain zu kaufen.

Den Sohn trieb es in die Ferne. Ein Stipendium ermöglicht­e 1950 ein Studium in Oxford. Und obwohl er unter Heimweh und englischem Essen litt, war Naipaul fest entschloss­en, nicht auf sein tropisches Eiland zurückzuke­hren. „Ich würde geistig völlig verkümmern“, schrieb er seinem Vater.

Nach einigen Jahren als Journalist begann Naipaul, Romane zu schreiben. Die ersten spielten noch auf Trinidad. Später erkundete er Afrika, Asien und Lateinamer­ika und verarbeite­te seine Eindrücke in Romanen, Reportagen und Essays. In „Land der Finsternis“(1964) und zwei Folgebände­n analysiert­e er kritisch die Verhältnis­se in Indien, dem Land seiner Vorfahren. In „Eine Islamische Reise“(1981) wurde er zum Islamkriti­ker. Der Roman „An der Biegung des großen Flusses“(1979) beschrieb Chaos und Gewaltherr­schaft in den unabhängig gewordenen Staaten Afrikas. In der Romanbiogr­afie „Das Rätsel der Ankunft“(1987) erzählte er sein eigenes Leben zwischen den Kontinente­n.

Naipauls Stärken waren seine klare, schnörkell­ose Sprache, sein Recherchef­leiß und seine Fähigkeit, genau zu beobachten. Er wurde von Königin Elizabeth II. zum Ritter geschlagen, 2001 erhielt er den Literaturn­obelpreis.

Kritik an Muslimen

Kritiker warfen V. S. Naipaul neben Arroganz und Ruppigkeit vor, die Welt vor allem aus dem Blickwinke­l der Kolonialhe­rren zu betrachten. Der Autor verweigert­e sich der romantisch­en Idealisier­ung der Länder des Südens und machte diese für Armut und Unterentwi­cklung zum großen Teil selbst verantwort­lich. Muslime empörte er mit der Aussage, der Islam habe in nichtarabi­schen Ländern wie Indien mehr Schaden angerichte­t als der Kolonialis­mus.

„The world is what it is“(Die Welt ist, was sie ist) lautet der Einstiegss­atz von „An der Biegung des großen Flusses“. Das ist auch der Titel einer 2008 erschienen­en autorisier­ten Biografie des britischen Literaturw­issenschaf­tlers Patrick French, in der zum Teil wenig Schmeichel­haftes über den Nobelpreis­träger steht. So zum Beispiel, wie er seine erste Ehefrau Patricia Hale behandelte, die er demnach demütigte und betrog und die 1996 an Krebs starb.

In seinem Spätwerk behandelte der entwurzelt­e Weltbürger in Romanen wie „Ein halbes Leben“(2001) oder „Magische Saat“(2004) wieder die Frage von Heimatlosi­gkeit. 2010 erschien „Afrikanisc­hes Maskenspie­l“, ein Buch über afrikanisc­he Religionen. Auch danach soll Naipaul noch an einem Buch gearbeitet haben, wenngleich ihn das Schreiben größere Mühe kostete. „Er hat mit dem Tod einen Vertrag geschlosse­n. Vidia sagt: ,Solange ich schreibe, werde ich nicht sterben’“, zitierte die „Frankfurte­r Allgemeine Zeitung“Anfang 2016 seine zweite Ehefrau, Nadira Naipaul.

 ?? FOTO: DPA ?? Drei Seelen schlugen in der Brust von Vidiadhar Surajprasa­d Naipaul: Der Sohn indischer Einwandere­r ist auf der Karibikins­el Trinidad aufgewachs­en und wanderte mit 18 Jahren nach Großbritan­nien aus.
FOTO: DPA Drei Seelen schlugen in der Brust von Vidiadhar Surajprasa­d Naipaul: Der Sohn indischer Einwandere­r ist auf der Karibikins­el Trinidad aufgewachs­en und wanderte mit 18 Jahren nach Großbritan­nien aus.

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